ANGELIKA RAUCH

MUTTER

 

Meine Mutter kam in den letzten Kriegsjahren zur Welt. Entstanden war sie in einem der kurzen Kriegsurlaube, und als ihre eigene Mutter bemerkte, daß sie mit meiner Mutter schwanger war, begann sie den Tag damit, vom Tisch auf den Boden zu springen, und beendete ihn damit, schwere Kisten zu tragen. Es half alles nichts. Meine Mutter ließ sich nicht davon abbringen, auf die Welt zu kommen.
Als sie geboren wurde, wog sie kaum zwei Kilo und blieb auch ihre Kindheit hindurch ein dürres, für Krankheiten anfälliges Kind. Mein Großvater war noch im Krieg, als seine einzige Tochter geboren wurde. Oft sprach die Großmutter von ihrem Mann und wie gut sie es haben würden, wenn der Krieg endlich zu Ende wäre und er zu ihnen zurückkehren könnte.
Eines Tages, sie war nun schon fünf Jahre alt, kam ihr Vater wirklich zurück, doch das Leben der beiden verbesserte sich dadurch nicht. Die einzige Veränderung, die die Anwesenheit des Vaters mit sich brachte, war die, daß meine Mutter außer mit einer verzweifelten Frau auch noch mit einem kranken Mann unter einem Dach leben mußte. Viele Leiden hatte er vom Krieg mit nach Hause gebracht und manche von ihnen hatten sich so in seinem Körper manifestiert, daß sie nicht mehr heilbar waren. Er hatte geschwächte Organe, chronische Entzündungen, Husten und Mala-riaanfälle. Oft wünschte meine Mutter ihr Vater hätte sie in der frühkindlichen Illusion von ihm be-lassen und wäre nie zurückgekommen oder hätte sich zumindest bemüht, einem Vater ihrer Vor-stellungen ähnlicher zu sein, doch irgendwann war es dafür zu spät. Die wichtigste Erkenntnis, die meine Mutter von seinem Erscheinen nach vielen Jahren gewonnen hatte, war die, daß sie kein Sohn war und das dies etwas Schlechtes war.
Als ihr Vater im Alter von 48 Jahren starb, vergoß das nicht mehr ganz so kleine, aber immer noch dürre Mädchen keine Träne. Ihre Mutter weinte dafür für beide, doch nach den Tränenfluten war bald alles wieder beim Alten. Sie waren wieder alleine unglücklich.
Meine Mutter nahm infolge die wieder gewonnene Einsamkeit zum Anlaß, sich unsterblich in einen jungen Burschen zu verlieben, und sie beschloß, ihn zu heiraten. Es wurde eine schmuck-lose Feier im kleinen Rahmen. Meine Mutter war 19, als sie meinen Vater heiratete, und sie war noch immer 19, als meine Schwester zur Welt kam, und als ich endlich an die Reihe kam, hatten sie sich schon so viele Kilometer auseinandergelebt, daß sie kaum mehr miteinander sprachen. Trotzdem blieb die Ehe noch 15 Jahre aufrecht. Seit ich mich erinnern kann, bestand unsere Familie nicht aus Vater, Mutter Kind, sondern war eine Herde. Wir bildeten ein mittelgroßes Sozialgefüge mit einem befreundeten Ehepaar und deren beiden Söhnen. Wir waren nie zu viert, wir waren immer zu acht. Wir verbrachten alle unsere Urlaube und Wochenenden gemeinsam. Unsere Eltern waren nie Hippies, obwohl es fast ihre Zeit gewesen war. Sie waren Arbeiterkinder, die zu einer Zeit, als die Hippies aufbrachen, die Strukturen aufzuweichen, zwar im selben Alter, aber doch schon so eingekeilt waren in den Strukturen, daß die Freiheit durch sie hindurchglitt. Man braucht viel Zeit für Freiheit. Obwohl meine Mutter entgegen aller äußerer Umstände im Grunde ihres Herzens ein wahrer Hippie war, vor allem dann, wenn es um die freie Liebe ging.
Es wurde mir erst viel später bewußt, doch es gab Anzeichen, früh schon. Eines dieser An-zeichen erkannte ich erst viel später, als das, was sie waren. Als es geschah, war ich noch zu klein, um zu verstehen. Eines Tages meiner Kindheit, ich kann mich noch sehr genau an diesen Tag erinnern, passierte es. Wir Kinder waren alle im Garten spielen. Uns war etwas langweilig und Rosi, meine Schwester besorgte wie so oft den Autoschlüssel unserer Eltern, um etwas Musik zu hören und somit etwas Verbotenes zu tun. Wir zwängten uns in den alten VW, der vor dem Eingang geparkt war, und hörten heimlich Radio. Es war ein schöner Nachmittag gewesen und ich vergaß meine sonstige Schüchternheit und faßte Mut. Rosi, die Älteste von uns, begann lässig im Takt der Musik mit ihrem Kopf zu wippen und die beiden Jungs machten es ihr nach, bis alle drei sich ekstatisch zur Musik bewegten. Da wurde ich unvorsichtig. Mitgetragen von der Stimmung begann ich ebenfalls übermütig zu tanzen. Ich vergaß alles um mich, bis der Zeigerfinger meiner Schwester plötzlich auf mich zielte. Sie lachte laut auf und alle drehten sich nach mir um und feuerten mich spöttisch an weiterzumachen. Es war schrecklich, und ich dachte im Erdboden zu versinken und spürte wie meine Wangen glühten und doch versuchte ich möglichst ungerührt auszusehen, obwohl meine Bewegungen sich jetzt anfühlten, wie wenn ich aus Holz wäre, und mit jeder Sekunde immer lächerlicher aussahen. Die beiden Jungs lachten und schlugen sich mit den Händen prustend auf die Schenkeln, bis Rosi dem ganzen ein Ende bereitete. Ich dachte, ich könnte mich nie wieder bei ihnen blicken lassen, würde bis ans Ende meiner Tage verspottet werden, doch als wir beim Hineingehen meine Mutter und den Vater der Jungs an die Hauswand gelehnt einander küssend antrafen, verlief sich der Spott von selbst und ich war gerettet. Den ganze Abend über war die Stimmung bedrückt, nur ich konnte nichts anderes sehen, als daß sie mich gerettet hatte. Ich liebte meine Mutter dafür über alle Maßen und gab ihr beim Schlafengehen einen extra dicken Gutenachtkuß. Ich habe sie selten so geliebt wie an diesem Tag.
Im Laufe der Jahre wurde es dann immer deutlicher und es erfüllte mich immer weniger mit Freude, sie in flüchtigen Momenten mit anderen Männern zu überraschen. Die Freunde meiner Mutter wechselten nun rasch, und irgendwann kamen nur mehr Männer nach Hause, die sie als Arbeitskollegen oder Freunde eines Bekannten vorstellte. Die Männer waren immer sehr nett zu uns, doch unseren Vater bekamen wir immer weniger zu Gesicht. Eine Zeit lang versuchte meine Mutter noch, mich überall hin mitzunehmen. Sie stellte mich vielen Menschen vor und wollte, daß ich mit ihren Bekannten und deren Kindern, soweit Kinder vorhanden waren, Freundschaft schloß. Irgendwann wurde es ihr dann anscheinend zu anstrengend, mich und meine Schwester in ihr Leben zu integrieren, und die Männer wechselten in so rasantem Tempo, daß ich mich nicht mehr auskannte, zu wem ich nun Onkel sagen mußte und wer nur ein entfernter Bekannter war.
Dann kam der Tag, ich denke ich war so um die 12 Jahre alt, an dem sie aus unserer Wohnung auszog. Der Kontakt blieb eine Zeit lang mit einigen Anrufen oder ein bis zwei Treffen im Monat aufrecht. Nach einiger Zeit rief sie nicht mehr an, sondern schickte nur noch Karten oder kurze Briefe. Irgendwann kamen auch keine Karten mehr und sie verschwand aus unserem Leben. Seit damals habe ich sie nie wieder gesehen.