Wieder mal steht sie da, schaut zu den dunklen Fenstern seiner Wohnung
hinauf. Wo bleibt er? Es ist schon nach 22 Uhr und immer noch ist er nicht
da.
Seit sie ihn kennt, ist ihr Leben anders. Früher hatte sie viele
Freunde, ging gerne und oft aus. Seit sie ihn kennt, lebt sie nur noch
für die Zeit mit ihm
Wie oft ist sie schon da gestanden in letzter Zeit? Sie weiß es
nicht mehr.
Viel zu oft.
Ein Frösteln durchläuft ihren Körper. Es ist Ende November
und es hat bereits geschneit. Heute bläst noch dazu ein eisiger Wind.
Sie liebt ihn, aber für ihn ist es nicht so ernst. Ihre Liebe blendet
sie, läßt sie Sachen machen, die sie sonst bei anderen Frauen
als dumm und blind bezeichnet. Sie weiß das alles und doch schiebt
sie es immer wieder weg, will es nicht wahr haben. Bei ihr, rechtfertigt
sie sich, ist es etwas anderes und sie wird eines Tages auch wieder zu
sich selbst finden. Sie braucht dazu nur noch etwas Zeit. Zeit, die sie
eigentlich gar nicht hat. Denn der Sog der Eifersucht zieht sie in die
Tiefe.
Ihre Gedanken
schweifen ab, sind beim ersten gemeinsamen Abend, den sie mit ihm allein
verbrachte. Damals war er noch nicht wichtig für sie, aber an diesem
Abend sollte sich alles ändern. Irgendwann waren sie sich näher
gekommen. Vielleicht war es am Wein gelegen. Sie hatten begonnen, einander
zu berühren, sich zu streicheln, zu küssen. Sie war bereit gewesen,
sich ihm hinzugeben.
Langsam hatte er ihre Bluse nach oben geschoben, war mit seinen Fingern
am Rand ihres BHs entlang gefahren. Durch die dünnen Leggings hatte
sie ihn gespürt, als ob sie nackt wäre.
Ihre Hand war zu seinem Gürtel geglitten, mit zaghaften Bewegungen
hatte sie die Schnalle gelöst, den Knopf und den Reißverschluss
geöffnet.
Als sie mit ihrer Hand an seiner Hose entlang strich, konnte sie spürten,
wie erregt er war. Sie massierte ihn, ihre Erregung steigerte sich immer
mehr. Sie küßten sich heftiger. Als sie es fast nicht mehr
aushalten konnte, flüsterte sie ihm zu: „Komm bitte, komm,
ich möchte dich spüren.“
Er hatte es nicht wahrgenommen, so vertieft war er dabei, sie zu streicheln,
zu küssen. Nochmals flüsterte sie in einem flehenden Ton: „Bitte,
bitte, komm, ich will dich.“
Plötzlich hatte er mit seinen Liebkosungen aufgehört, sie lange
angeschaut und gesagt: „Es ist noch zu früh.“
Sie hatte
das Gefühl gehabt, als würde ihr jemand den Boden unter den
Füßen wegziehen. Sie, die sich immer zu schade gewesen war,
gleich beim ersten Mal mit einem Mann zu schlafen, sie, die sich noch
nie eine vermeintliche Blöße gegeben hatte, war abgewiesen
worden.
Was sollte das bedeuten: Er wolle nicht mit ihr schlafen? Sie fand sich
in einem Wechselbad der Gefühle. Er begehrte sie doch …
Als hätte er ihre Gedanken lesen können, sagte er: „Weißt
du, es bedeutet mir sehr viel, mit einer Frau zu schlafen, aber dazu brauche
ich noch Zeit.
Wie betäubt hatte sie sich wieder angezogen. Hatte nichts als Leere
gespürt.
Sie hatte schon so lange nicht mehr mit einem Mann geschlafen und jetzt,
da sie endlich wieder einen begehrte, wollte er nicht. Sie hatte einen
Schluck aus ihrem Weinglas getrunken und war dagesessen, ohne ein Wort
zu sagen. Die Stimmung war kaputt. Bald darauf hatten sie den Abend beendet.
Immer wieder hatte sie über seine Worte nachgedacht. Bis sie für
sich eine Antwort gefunden hatte. Sie beruhigte sich mit dem Gedanken,
dass es sehr wertvoll sei, so einem Mann zu begegnen. Er musste es ernst
meinen. Denn sonst hätte er nicht so reagiert. Hoffnung war damals
wieder in ihr hochgestiegen. Alle Zweifel, die sie gehabt hatte, verwischten
wieder.
Ein paar Tage später, sie saßen das erste Mal seit dem enttäuschenden
Abend beisammen, brachte er nach anfänglichem Herumdrücken das
Gespräch wieder auf das, was passiert war. „Weißt du“,
sagte er, „ich hab über uns nachgedacht. Ich bin noch nicht
so weit, wieder eine Beziehung einzugehen, ich will mich nicht so schnell
wieder binden.“ Sie hatte ihn angesehen und ihr Brustkorb war ganz
eng geworden.
„Ich will ja auch keine feste Beziehung, aber eine Freundschaft
mit sexuellem Hintergrund ...“
Er hatte sie nicht aussprechen lassen, „nein, das hab ich mir auch
überlegt, aber dazu ist mir unsere Freundschaft zu wertvoll, ich
möchte sie nicht mit bloßem Sex abwerten. Ich möchte auch
nur mit einer Frau schlafen, die ich liebe, denn mir ist bewusst, dass
dabei ein Kind entstehen kann.“
Sie hatte versucht, sich zu fangen. Ihre Gedanken kreisten. „Auch
ich begehre dich“, hörte sie ihn sagen, „ich möchte,
dass du immer eine Versuchung für mich bleibst, der ich widerstehen
kann.“ Und wieder hatte sie einen Tiefschlag bekommen. Sie hatte
so gehofft, er würde mehr für sie empfinden.
„Bist du damit einverstanden?“, hatte sie ihn sagen hören.
Während sie noch überlegte, was sie tun sollte, antwortete sie
ihm wie in Trance „Ich muss mir das überlegen, gib mir noch
Zeit.“
Die nächsten Tage hatte sie damit verbracht, an ihn zu denken. Was
sollte sie machen? Konnte sie ihr Begehren, das nur noch tiefer geworden
war, so zügeln, dass sie freundschaftlich damit umgehen konnte? Und
war eine Freundschaft nicht besser als gar nichts? Vielleicht würde
er doch noch anfangen sie zu lieben, ja, ganz bestimmt sogar. Wenn er
erst mal merkte, welch liebenswürdiger Mensch sie doch war ... sie
spann ihre Gedanken nicht weiter.
So verging wieder einige Zeit. Sie hatten sich hin und wieder getroffen,
waren essen gegangen, verbrachten einfach Zeit miteinander, und er hatte
ihr von sich erzählt und sie ihm von ihr. Sie waren sich näher
gekommen, aber nie wirklich nahe. Manchmal gaben sie sich ein Küßchen,
wenn sie sich trafen, und dann wieder hielten sie Abstand voneinander.
Es ist bereits 23
Uhr, sie spürt ihre Füße kaum noch. Nur die Kälte
kriecht langsam empor. Noch immer kein Licht. Wo er wohl bleibt? Ob er
grade mit einer anderen Frau im Bett liegt? Ob er sie gerade küsst?
Er hatte
sie verwöhnt, brachte ihr von Zeit zu Zeit Gebäck vom Laden
mit, schenkte ihr ein schönes Buch zu ihrem Geburtstag, und sie verwöhnte
ihn damit, dass sie am Wochenende für ihn kochte.
Wenn er nicht da war und sie nicht wusste, wo er sein könnte, spürte
sie Nervosität. Sie konnte ihn nicht fragen, wo er hinging, sie hatte
kein Recht dazu. Manchmal erzählte er, dass er bei seiner Tochter
gewesen sei, aber sie war sich sicher, dass er nicht nur wegen der Tochter
dort hin ging, sondern wegen seiner Ex. Er liebte die Ex, er musste sie
lieben, mit ihr hatte er ja geschlafen, sonst wäre dieses Kind nicht
entstanden. Verzweiflung machte sich in ihr breit. Gegen „sie“
konnte sie nicht ankämpfen. Sie fühlte sich ohnmächtig.
Er bestritt es, aber er hatte noch nicht mal seine Sachen in die neue
Wohnung geholt, obwohl er schon fast ein Jahr darin wohnte. „Sie“
machte mit ihm, was „sie“ wollte. Wenn „sie“ mit
den Fingern schnippte, sprang er.
Eines Tages verabredeten sie sich zu einem Mittagessen. Es war schön
wie immer, wenn sie nur in seiner Nähe sein konnte. Er brachte ein
ungewöhnliche Bitte vor: „Könntest du mir einen Gefallen
tun?“
„Gerne, um was geht es?“
„Ich hab mir die Tarotkarten gelegt für jemanden, den ich kürzlich
kennengelernt habe, und möchte dich bitten, dass du sie dir auch
ansiehst.“
„Es geht um eine Beziehung?“
„Es geht nicht um uns, keine Sorge.“
Sie hatte ihn angesehen, unfähig, auch nur einen Laut von sich zu
geben. So musste es sich anfühlen, wenn man ein Messer immer und
immer wieder in die Brust gestoßen bekam.
„Ich werde sie später treffen“, hatte er aufgeregt gesagt,
war er auf seinem Stuhl hin und her gewetzt.
Sie musste alle Kraft zusammennehmen, um ihm eine Antwort geben zu können.
Nachdem sie ihr Glas genommen, getrunken und es wieder hingestellt hatte,
kramte sie in ihrer Tasche herum, um Zettel und einen Kugelschreiber heraus
zu nehmen. Ohne ihn anzusehen legte sie alles vor ihm auf den Tisch.
„Jetzt ist es also soweit“, dachte sie, er liebte, oder besser,
er begehrte jemanden. Warum eine andere Frau, warum nicht sie? Warum konnte
er nicht sie lieben? Sie liebte ihn doch so sehr. Ja, so sehr, dass sie
es sich gar nicht mehr vorstellen konnte, ohne ihn zu leben. Aber sie
wusste, wenn es eine andere Frau in seinem Leben geben würde, würde
ihrer beider Freundschaft auch zu Ende sein.
„Entschuldige bitte, das war nicht richtig von mir, dich darum zu
bitten“, drangen seine Worte zu ihr durch, anscheinend hatte er
doch bemerkt, dass er sie verletzt hatte. Wie in einen Nebelschleier eingehüllt,
wie in Watte gepackt hörte sie seine Worte und flüsterte: „Ist
schon in Ordnung.“
Aber nichts war in Ordnung. Warum kann ich jetzt nicht einfach sterben?
Einfach nicht mehr sein? Warum muss ich da durch? Sie verstand die Welt
nicht mehr, verstand sich nicht mehr. „Schreib auf“, hatte
sie jemanden sagen gehört, und erst langsam war ihr bewusst geworden,
dass sie es gewesen war, die diese Worte gesagt hatte.
Er schrieb ihr die Anordnung der Karten auf. Sie sah auf die Uhr, kaum
hörbar hatte sie zu ihm gesagt: „Ich muss wieder ins Büro
zurück.“ Wollte die Kellnerin rufen, um zu zahlen, aber er
hatte abgewunken und gesagt: „Darf ich dich einladen?“
Sie hatte Mühe gehabt, nicht zu schwanken, als sie zur Garderobe
ging. Er hatte ihr in den Mantel geholfen, nach ihrer Hand gegriffen,
ihr einen Kuß auf den Mund gehaucht und schon hatte sie fluchtartig
das Lokal verlassen. Sie hatte sich nicht gefragt, warum lass ich mir
das gefallen, es war selbstverständlich für sie gewesen, sie
hatten ja schließlich eine Freundschaft und Freunde müssen
zusammenhalten. Für einander da sein. Sicher, in letzter Zeit war
sie mehr für ihn da gewesen als er für sie.
Tage später, als sie sich zufällig trafen, erzählte er
ihr, dass diese Frau nicht zu der Verabredung gekommen war. Ein Lächeln
war über ihr Gesicht gehuscht und wieder hatte sie Hoffnung in sich
gefühlt. Er sagte: „Das freut dich“, sie antwortete:
„Natürlich.“
Jetzt ist es bereits
fast Mitternacht, sie spürt nicht mal mehr die Kälte. Alles
in ihr ist leer. Warum steht sie da? Warum tut sie sich das überhaupt
an? Es wird ja nicht besser dadurch, eher schlechter.
Vor einigen Tagen,
nach längerer Zeit, hatten sie wieder einmal ein paar Stunden zusammen
verbracht. Sie hatte sich wohl und ausgeglichen gefühlt und auf ihn
gefreut. Als er endlich vor ihr stand, war sie ein unbändiges Verlangen
überkommen, ihm durchs Haar zu fahren. Nur mit Mühe hatte sie
sich zurückhalten können. Heute ist er schön wie schon
lange nicht mehr, hatte sie gedacht und ihn verliebt angesehen.
Aber gleich hatte er begonnen, von seiner Ex zu sprechen. Und dieses Mal
hatte er nicht mehr aufgehört, ihr seine Gedanken über die Ex
aufzudrängen. Aufgebracht hatte er über einen neuen Mann in
ihrem Leben berichtet, einen Angeber mit alternativem Lebensstil, der
glaubte, eine Frau zu beeindrucken, wenn er mit dem Fahrrad durch die
Stadt fuhr. Der sie über Aktivitäten mit dem Kind zu blenden
suchte und über dessen Fröhlichkeit die Tochter geschwärmt
hatte. Ein unzuverlässiger, unernster Bohemien, der ihrer nicht würdig
war. Wie konnte sie sich so herablassen, den interessant zu finden? Er
hatte sich vor Wut gewunden, sich sogar dazu verstiegen, kleine Drohungen
gegen den „Neuen“ in seinen Redefluss einzuflechten. Da also
ist er leidenschaftlich, hatte sie gedacht. Wenn es um „sie“
geht. Es ist immer nur um „sie“ gegangen. „Das ist jetzt
ihr Leben und geht dich gar nichts mehr an!“, hatte sie aufbegehrt.
Er war verstummt und sie hatten einander verbittert betrachtet.
Während sie noch nach einer Erklärung gesucht hatte, stand er
auf, und verließ gekränkt, weil sie diesmal nicht mitgespielt
hatte, ihre Wohnung.
Jetzt steht sie hier,
Tränen rinnen über ihr Gesicht, sie weiß nicht, was sie
tun soll. Er ist noch immer nicht heim gekommen. Und wenn er jetzt käme,
was würde das bedeuten? Was würde das für sie bedeuten?
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