CHRISTA KERN

BEGINN EINER INTERNETLIEBE

 

Endlich! Ihr Dienst ist zu Ende. Sie beeilt sich, packt ihre Sachen zusammen und macht ihre Abrechnung fertig. Auf dem Weg zum Parkplatz knöpft sie ihre Jacke zu. Bei ihrem Auto angekommen, Schlüssel rein, aufgesperrt. Es ist kalt, darum will der Motor nicht richtig anspringen. Gang rein, und los. Auf der Fahrt nach Hause merkt sie eine freudige Erregung in sich hochsteigen. Sie muß sich dazu zwingen, ihre Gedanken auf die Straße und den Verkehr zu lenken. Bald wird sie wieder vor ihrem PC sitzen, sich im Internet anmelden, um zu chatten.

Kaum ist sie zu Hause, zieht sie ihre Schuhe aus, hängt den Mantel an den Haken der Garderobe und geht geradewegs in ihr Zimmer - Knopf am PC gedrückt und schnell in die Küche. Während der Rechner hochfährt, holt sie sich noch schnell etwas zu essen und zu trinken. Hört ihren Mann sagen: "Mußt du dich denn schon wieder vor dieses Gerät setzen?" Sie läßt sich auf keine Diskussion ein, zuckt leicht mit ihren Schultern und geht in ihr Zimmer, stellt den Teller und das Glas ab, schaut gebannt auf den Bildschirm, wie sich die Maske aufbaut.
Heute dauert es besonders lange, zumindest kommt es ihr so vor. Endlich! Das Geräusch, wenn sich das Modem einwählt, klingt wie Musik in ihren Ohren. Sie prescht vor in den Chatroom.
Ob er schon da ist?.

Kennengelernt hat sie ihn vor einem Jahr. An diesem Tag war es ziemlich flau im Chat. Gelangweilt las sie, was die anderen Teilnehmer schrieben.
Plötzlich wurde sie von jemandem angeschrieben. Er nannte sich "Anselm". "hallo", "hallo du", "von wo bist du?" "aus der Steiermark" "und du?" "ich bin aus Wien" "warst du schon öfter hier?" "ja ich bin sehr oft hier". Es war ein Plaudern ohne Tiefgang, trotzdem fühlten sich beide wohl.
Am nächsten Tag fand sie bereits eine E-Mail von ihm vor. Sie war erstaunt und fühlte Freude in ihr hochsteigen. Sofort machte sie sich daran, ihm zu antworten.
Ein paar Tage später schickte er ihr über das Netz ein Foto von sich.
Es zeigte einen blondgelockten Mann auf einem antiken Stuhl mit einer Dose Bier in der Hand. Er sah nicht sehr aufregend aus. Mittlerweile wußte sie auch, daß er Journalist und Literaturkritiker war. Das interessierte sie sehr, weil sie selber am Schreiben Gefallen gefunden hatte.Da gab es also nun jemanden, der sie auch geistig anregte. Sie begannen, gemeinsame Alltagsgeschichten zu erfinden. "wie geht es dir?", "etwas verspannt von der vielen Arbeit", "möchtest du, daß ich dich massiere?" "ganz sanft, mit kreisenden Bewegungen lockere ich deine Muskeln auf" "spürst du es ?""hmmmm ja das tut gut" "mach weiter so""ich lege meinen Arm um dich" "stop!" "was ist?" "das geht doch gar nicht!" "warum, magst du das nicht?" "doch aber ..." "ja?" "na, weil ich doch hinter dir stehe und nicht neben dir sitze, also kannst du deinen arm nicht um mich legen" "du hast recht!"...
Es waren Szenen der Nähe, voll Gefühl. Manchmal fing sie an, dann wieder er, doch sie überschritten nie die unausgesprochenen Grenzen.
Sie war richtig süchtig nach den Gesprächen mit Anselm geworden. Ihr Mann war eifersüchtig darauf, aber mit ihm konnte sie nicht über ihre Gefühle und Gedanken reden, er verstand sie nicht und sie interessierten ihn nicht. Sollte er ihr doch diese Freiheit lassen, ihre Gefühlswelt mit jemand anderen zu teilen. Sie hatte sich damit abgefunden, daß sie von ihm nicht bekam, was sie sich wünschte. Und wartete auf Anselm.

Er ist noch nicht da. Sie hat also noch Zeit, ihre elektronische Post abzurufen. Sie schaut in ihre E-Mail Box, um zu sehen, ob er ihr schon geschrieben hat. Ihr Herz macht einen Freudensprung und ihre Hände fangen an zu schwitzen. Ob ihm ihre Gedanken gefallen? Wird er sie verstehen?

Sie hat ihm geschrieben:
Ich fühle mich hier wohl und geborgen - und doch fehlt mir etwas, will ich weg.
Ich lebe gerne hier - und doch weiß ich, daß ich gehen werde.
Ich weiß nicht, was mich erwartet.
Und doch lasse ich mich fallen, in dieses ungewisse ETWAS.

Manchmal glaube ich in einer Sackgasse zu sein. Und je näher ich dieser Mauer vor mir komme, um so deutlicher sehe ich die Biegung, die meine Straße des Lebens macht, um dann wieder geradeaus zu gehen.

Du hältst mein Herz in deinen Händen.
Gib darauf acht, und tu ihm nicht weh!
Wenn wir uns eines Tages trennen,
gib es mir unversehrt wieder!

Das war ihre Botschaft an ihn.
Sie muß all ihren Mut zusammennehmen, um endlich seine Mail zu öffnen.

Er schreibt:
hast du bemerkt, wie verschieden wir sind? du bist eine frau und ich bin ein mann. ich würde beim italiener niemals pizza essen, und du haßt sushi. mit der stimme von barry manilow könnte man mich totprügeln, und du würdest dich winden unter rotzbuben von babybird und unter ron sexsmith. du schreibst deine gedichte und ich lese oskar pastior. du kennst dich ganz gut, und schreibst mit deinen gedichten ein poetisches tagebuch, um dir über deine gefühle klar zu werden.
ach chrissie! wenn man dich aber kaum kennt, werden auch andere menschen offen genug sein, um dir zuzuhören? ich fürchte: nein. die unberechenbaren gefühle sind das eine, die kalte welt, das andere. ich schicke dir meine stimme, meine hände, meinen haaransatz, alles was du brauchst, um ein zärtliches gedicht über mich zu schreiben. und dann, will ich es lesen. aber ganz allein.

Ihr Herz pocht! Was hat er geschrieben? Es liegt so viel Gefühl in diesen Worten. Und plötzlich spürt sie ein leises Ziehen in ihrer Brust. Immer wieder liest sie seine Worte, ehe sie den Mut dazu findet, um in den Chat zu gehen.

"warum antwortest du nicht?" "ich habe gerade deine Mail gelesen." "und?, bist du enttäuscht?" "nein" "eher berührt". "warum das?" "in deiner Mail war so viel Gefühl". "und?, wie geht es dir damit?" "ich weiß es noch nicht." "doch du weißt es!" "und ich auch.!" "so? meinst du?" "ja, so wie ich dich kenne."
Wärme steigt in ihrem Körper hoch.
Glücklich geht sie zu Bett. Mit einem Lächeln auf ihren Lippen schläft sie ein, nimmt dabei alles mit in ihre Träume und freute sich schon auf den nächsten Tag, denn dann wird sie ihn wieder treffen.

Für Chrissie hat sich eine neue Welt aufgetan. Eine, in die sie fliehen kann, wenn sie die Realität nicht mehr aushält. Ihre Phantasien mögen zwar Illusion sein, und sie weiß, daß diese Internetbeziehung einer Prüfung von Angesicht zu Angesicht vielleicht gar nicht gewachsen sein würde, aber solange Anselm ihr als sein eigenes Phantasiewesen begegnet und nicht real, kann sie an das schöne Bild von ihm glauben.