Endlich! Ihr Dienst ist zu Ende. Sie beeilt sich, packt ihre Sachen zusammen
und macht ihre Abrechnung fertig. Auf dem Weg zum Parkplatz knöpft
sie ihre Jacke zu. Bei ihrem Auto angekommen, Schlüssel rein, aufgesperrt.
Es ist kalt, darum will der Motor nicht richtig anspringen. Gang rein, und
los. Auf der Fahrt nach Hause merkt sie eine freudige Erregung in sich hochsteigen.
Sie muß sich dazu zwingen, ihre Gedanken auf die Straße und
den Verkehr zu lenken. Bald wird sie wieder vor ihrem PC sitzen, sich im
Internet anmelden, um zu chatten.
Kaum
ist sie zu Hause, zieht sie ihre Schuhe aus, hängt den Mantel an
den Haken der Garderobe und geht geradewegs in ihr Zimmer - Knopf am PC
gedrückt und schnell in die Küche. Während der Rechner
hochfährt, holt sie sich noch schnell etwas zu essen und zu trinken.
Hört ihren Mann sagen: "Mußt du dich denn schon wieder
vor dieses Gerät setzen?" Sie läßt sich auf keine
Diskussion ein, zuckt leicht mit ihren Schultern und geht in ihr Zimmer,
stellt den Teller und das Glas ab, schaut gebannt auf den Bildschirm,
wie sich die Maske aufbaut.
Heute dauert es besonders lange, zumindest kommt es ihr so vor. Endlich!
Das Geräusch, wenn sich das Modem einwählt, klingt wie Musik
in ihren Ohren. Sie prescht vor in den Chatroom.
Ob er schon da ist?.
Kennengelernt hat
sie ihn vor einem Jahr. An diesem Tag war es ziemlich flau im Chat. Gelangweilt
las sie, was die anderen Teilnehmer schrieben.
Plötzlich wurde sie von jemandem angeschrieben. Er nannte sich "Anselm".
"hallo", "hallo du", "von wo bist du?" "aus
der Steiermark" "und du?" "ich bin aus Wien"
"warst du schon öfter hier?" "ja ich bin sehr oft
hier". Es war ein Plaudern ohne Tiefgang, trotzdem fühlten sich
beide wohl.
Am nächsten Tag fand sie bereits eine E-Mail von ihm vor. Sie war
erstaunt und fühlte Freude in ihr hochsteigen. Sofort machte sie
sich daran, ihm zu antworten.
Ein paar Tage später schickte er ihr über das Netz ein Foto
von sich.
Es zeigte einen blondgelockten Mann auf einem antiken Stuhl mit einer
Dose Bier in der Hand. Er sah nicht sehr aufregend aus. Mittlerweile wußte
sie auch, daß er Journalist und Literaturkritiker war. Das interessierte
sie sehr, weil sie selber am Schreiben Gefallen gefunden hatte.Da gab
es also nun jemanden, der sie auch geistig anregte. Sie begannen, gemeinsame
Alltagsgeschichten zu erfinden. "wie geht es dir?", "etwas
verspannt von der vielen Arbeit", "möchtest du, daß
ich dich massiere?" "ganz sanft, mit kreisenden Bewegungen lockere
ich deine Muskeln auf" "spürst du es ?""hmmmm
ja das tut gut" "mach weiter so""ich lege meinen Arm
um dich" "stop!" "was ist?" "das geht doch
gar nicht!" "warum, magst du das nicht?" "doch aber
..." "ja?" "na, weil ich doch hinter dir stehe und
nicht neben dir sitze, also kannst du deinen arm nicht um mich legen"
"du hast recht!"...
Es waren Szenen der Nähe, voll Gefühl. Manchmal fing sie an,
dann wieder er, doch sie überschritten nie die unausgesprochenen
Grenzen.
Sie war richtig süchtig nach den Gesprächen mit Anselm geworden.
Ihr Mann war eifersüchtig darauf, aber mit ihm konnte sie nicht über
ihre Gefühle und Gedanken reden, er verstand sie nicht und sie interessierten
ihn nicht. Sollte er ihr doch diese Freiheit lassen, ihre Gefühlswelt
mit jemand anderen zu teilen. Sie hatte sich damit abgefunden, daß
sie von ihm nicht bekam, was sie sich wünschte. Und wartete auf Anselm.
Er ist noch nicht
da. Sie hat also noch Zeit, ihre elektronische Post abzurufen. Sie schaut
in ihre E-Mail Box, um zu sehen, ob er ihr schon geschrieben hat. Ihr
Herz macht einen Freudensprung und ihre Hände fangen an zu schwitzen.
Ob ihm ihre Gedanken gefallen? Wird er sie verstehen?
Sie hat ihm geschrieben:
Ich fühle mich hier wohl und geborgen - und doch fehlt mir etwas,
will ich weg.
Ich lebe gerne hier - und doch weiß ich, daß ich gehen werde.
Ich weiß nicht, was mich erwartet.
Und doch lasse ich mich fallen, in dieses ungewisse ETWAS.
Manchmal glaube ich
in einer Sackgasse zu sein. Und je näher ich dieser Mauer vor mir
komme, um so deutlicher sehe ich die Biegung, die meine Straße des
Lebens macht, um dann wieder geradeaus zu gehen.
Du hältst mein
Herz in deinen Händen.
Gib darauf acht, und tu ihm nicht weh!
Wenn wir uns eines Tages trennen,
gib es mir unversehrt wieder!
Das war ihre Botschaft
an ihn.
Sie muß all ihren Mut zusammennehmen, um endlich seine Mail zu öffnen.
Er schreibt:
hast du bemerkt, wie verschieden wir sind? du bist eine frau und ich bin
ein mann. ich würde beim italiener niemals pizza essen, und du haßt
sushi. mit der stimme von barry manilow könnte man mich totprügeln,
und du würdest dich winden unter rotzbuben von babybird und unter
ron sexsmith. du schreibst deine gedichte und ich lese oskar pastior.
du kennst dich ganz gut, und schreibst mit deinen gedichten ein poetisches
tagebuch, um dir über deine gefühle klar zu werden.
ach chrissie! wenn man dich aber kaum kennt, werden auch andere menschen
offen genug sein, um dir zuzuhören? ich fürchte: nein. die unberechenbaren
gefühle sind das eine, die kalte welt, das andere. ich schicke dir
meine stimme, meine hände, meinen haaransatz, alles was du brauchst,
um ein zärtliches gedicht über mich zu schreiben. und dann,
will ich es lesen. aber ganz allein.
Ihr Herz pocht! Was
hat er geschrieben? Es liegt so viel Gefühl in diesen Worten. Und
plötzlich spürt sie ein leises Ziehen in ihrer Brust. Immer
wieder liest sie seine Worte, ehe sie den Mut dazu findet, um in den Chat
zu gehen.
"warum antwortest
du nicht?" "ich habe gerade deine Mail gelesen." "und?,
bist du enttäuscht?" "nein" "eher berührt".
"warum das?" "in deiner Mail war so viel Gefühl".
"und?, wie geht es dir damit?" "ich weiß es noch
nicht." "doch du weißt es!" "und ich auch.!"
"so? meinst du?" "ja, so wie ich dich kenne."
Wärme steigt in ihrem Körper hoch.
Glücklich geht sie zu Bett. Mit einem Lächeln auf ihren Lippen
schläft sie ein, nimmt dabei alles mit in ihre Träume und freute
sich schon auf den nächsten Tag, denn dann wird sie ihn wieder treffen.
Für Chrissie
hat sich eine neue Welt aufgetan. Eine, in die sie fliehen kann, wenn
sie die Realität nicht mehr aushält. Ihre Phantasien mögen
zwar Illusion sein, und sie weiß, daß diese Internetbeziehung
einer Prüfung von Angesicht zu Angesicht vielleicht gar nicht gewachsen
sein würde, aber solange Anselm ihr als sein eigenes Phantasiewesen
begegnet und nicht real, kann sie an das schöne Bild von ihm glauben.
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