ILSE KRÜGER-SKLENICKA

AUFBRÜCHE

Ich blättere in den abgelaufenen Pässen meiner Mutter, voll gestempelt mit Visa für die Tschechoslowakei, für Ungarn, Deutschland, Schweden, die Schweiz und wieder für die Tschechoslowakei und für Ungarn. Schon als Mädchen, als junge Frau nach dem ersten Weltkrieg, in den späten 20er Jahren, war meine Mutter eine Weltmeisterin im Aufbrechen geworden. Trotz ihrer prekären finanziellen Situation, musste sie ihr Studium doch als Erzieherin und Sprachlehrerin finanzieren. Aber Geldmangel konnte sie nicht dazu bewegen, daheim zu bleiben. Mit dem Fahrrad fuhr sie dreimal in die Schweiz, und etwas weniger strapaziös, weil durch flachere Landschaften, nach Ungarn und nach Mähren. Sie übernachtete in Jugendherbergen, in Heustadeln, im Freien. Und dazwischen brach sie zu Fuß oder mit den Schiern in die Berge auf. Selbst Matratzenlager in Schutzhütten waren ein nicht finanzierbarer Luxus, meist schlief sie in Selbstversorgerhütten oder wiederum in Heustadeln. Nicht immer allein, aber doch oft. Keine ihrer Freundinnen, ihrer Freunde besaß dieselbe nie versiegende Energie.
Woraus nährte sie diese Energie? Aus ihrer Neugier? Aus ihrer Abenteuerlust? Aus ihrem Staunen vor der Schönheit in der Natur?
Das fragten sich mein Bruder und ich uns nicht, als wir als Kinder zu Fuß, auf Schiern und, als wir größer geworden waren, mit dem Fahrrad hinter ihr her zogen. Gelegentlich maulten wir, was uns kaum jemals eine Verschnaufpause einbrachte, meist waren wir stolz, mit ihr mitzuhalten. Die Zeichnung, auf der meine Mutter festgehalten hat, wie ich mit 5 Jahren zu Fuß die Strecke von Ottenschlag nach Spitz und zurück bewältigt habe, bewahre ich noch immer auf. Das war 1944, und die kleine Expedition diente ausnahmsweise einem wirtschaftlichen Zweck, nämlich der Beschaffung von Marillen.
Für mich als Kind war ein vom ständigen Aufbruch geprägtes Leben normal. In der Mittelschulzeit begann ich es jedoch gelegentlich zu hinterfragen, da bekam ich Einsicht in das so grundverschiedene bequeme bürgerliche Leben meiner Mit-schülerinnen. Halbherzig, wie mir mein eigener erster rasch voll gestempelter Pass zeigt. Erst später als berufstätige Mutter begann ich, das Leben meiner Mutter wirklich kritisch zu betrachten. Zu der Zeit gab sich meine Mutter längst nicht mehr mit der Erkundung von Europa zufrieden: Asien, Afrika, Süd- und Nordamerika waren die Ziele. Noch immer mit dem Rucksack, allein oder mit meinem Bruder drang sie in Gebiete außerhalb der Touristenpfade vor. Hatte sich ihre Lust, Neues zu erleben nicht längst in eine Sucht verwandelt, fragte ich mich. Wie viele Aufbrüche verträgt das Leben eines Menschen? Wie viel Eindrücke vermag es zu verdauen? Oder waren das bloß die Unkenrufe einer Tochter, die sich selbst in eine Situation laviert hatte, in der an Aufbrüche für lange Zeit nicht zu denken war? Die Kinder, der gemeinsam aufgebaute Betrieb, der geliebte Partner, auf den Rücksicht zu nehmen selbstverständlich war.
Auf eine neue Partnerschaft hatte sich meine Mutter nicht eingelassen, nachdem mein Vater aus dem Krieg nicht zurückgekommen war. Stattdessen gab es zahlreiche Bekannte, die meinen Bruder und mich bewunderten, wie selbständig wir bereits als Volksschulkinder waren. Unsere Kochkenntnisse und unsere Fähigkeit, den Haushalt einige Tage, später sogar Wochen, allein führen zu können, waren die Voraussetzung, dass meine Mutter, die uns wegen der lästigen Schulpflicht zu Hause lassen musste, jederzeit allein aufbrechen konnte.
Kinder sehnen sich nach dem, was sie nicht bekommen. Ich sehnte mich nach einer Mutter, die wenigstens gelegentlich da ist und ihrem Kind ein Butterbrot streicht.
Das Leben meiner Mutter außerhalb gängiger Konventionen in selbst gewährter Unabhängigkeit, je älter ich wurde, umso ambivalenter betrachtete ich es. In die Bewunderung für ihre Energie und Unternehmungslust mischte sich Verachtung für ihre Egozentrik.
Die Jahre vergingen, meine Mutter wurde älter, wenn sie es auch nicht zugeben wollte, ihre Knochen poröser. Nach dem vierten Knochenbruch beschloss sie, die Winter in Australien zu verbringen. Und so sehe ich sie in meiner Erinnerung noch immer dorthin aufbrechen: Eine alte Frau, das Gesicht durch den zu häufigen Aufenthalt in der Sonne runzelig geworden, mit einem großen ausgebeulten Rucksack, der sie niederdrückt und noch stärker nach vorne gebeugt gehen lässt, als es ihr durch die Osteoporose verformte Körper fordert. Gerade kommt sie durch die sich automatisch öffnende Tür aus dem Zollraum und jetzt erkenne ich, dass mir meine Erinnerung die Rückkehr aus Australien und nicht ihren letzten Aufbruch zeigt. Bei der Abreise hat sie den Rucksack ja stets aufgegeben, bevor sie sich verabschiedet hat und allein durch die Passkontrolle geschritten ist. Aber vom letzten Abschied habe ich kein Bild in mir bewahrt, wenn ich an sie denke, sehe ich stets die Szene vor mir, wie sie leicht schwankend unter dem Rucksack näher kommt, und ich erinnere mich mit Scham an das Gefühl der Peinlichkeit, das mich einen Augenblick zögern ließ, auf sie zuzutreten und sie zu umarmen: zu viele Menschen drehten sich nach der komischen Alten um.
Vier Monate später wurde mir der ausgebeulte Rucksack meiner Mutter mit ihren Habseligkeiten im Auswärtigen Amt ausgefolgt. Hat meine Mutter trotz ihrer kör-perlichen Schwäche den letzten Aufbruch riskiert, um nicht zu einem Leben, das keine weiteren Aufbrüche zulässt, verdammt zu sein? Um bis zum letzten Atemzug ein Leben als ein sich ständig veränderndes Neues, Wunderbares zu erfahren?