IRENE NEUWERTH

DAS LEHRMÄDCHEN

 

Wieder einmal stand sie hinter ihr, das Mädchen fühlte es, daß ihr jemand direkt auf die Finger sah, die den Blumendraht bearbeiteten. Es war die Abteilungsleiterin der Firma “Steiner – Kunstblumen und Federschmuckerzeugung”. Als solche war sie natürlich interessiert, wie sich das jüngste Lehrmädchen bei der Arbeit tat. Irmi hatte – knapp vierzehn vorbei – erst mit der Lehre begonnen. Sie war nicht unglücklich, weil sich alle doch sehr um sie bemühten, besonders die ihr zugeteilte Lehrfrau. Die saß direkt neben ihr und meinte, Irmi müsse sich nicht ängstigen. Aber Irmi hatte einen Traum: Sie wollte unbedingt mit Kindern arbeiten. Schon in ihrer Kindheit hatte sie immer die “rotzigsten Babies”, wie ihre Mutter das auszudrücken pflegte, im St. Johann-Park spazieren geführt. Später, als Dreizehnjährige, hatte sie in einem Kindergarten geholfen. Leider war es zu dieser Zeit – man schrieb das Jahr 1947 – schwierig, einfach einer Berufsneigung zu folgen. Irmi mußte froh sein, überhaupt eine Lehrstelle gefunden zu haben. Ihr Vater war vermißt und sie waren ausgebombt. Mutter und sie wohnten bei einer alten Tante, Mutter hatte ein winziges Kabinett und Irmi nur ein Bett.
Es war 9 Uhr und Irmi sprang auf, um den Einkauf zu erledigen. Sie, die Jüngste, war dazu verpflichtet, und sie war sehr froh darüber. Alles, was sie von dem ewigen Sitzen erlöste, gefiel ihr. Es gab noch zwei Lehrmädchen, die draußen im Saal an den drei großen Tischen mit je sechs Arbeiterinnen saßen. Irmi war im Zimmer mit vier Frauen untergebracht. Jetzt mußte sie aber zu jeden Tisch, um die Bestellungen aufzunehmen. Es waren bescheidene Aufträge damals: eine Semmel, etwas Liptauer oder ein paar Deka Braunschweiger. Sie schlenkerte mit dem leeren Netz und hüpfte die Stiegen hinab, vorbei an der Federnabteilung im ersten Stock.
Die Arbeitszeit betrug neun Stunden, von ½ 8 Uhr bis 17 Uhr, abzüglich einer halben Stunde Mittagspause. Die meisten Frauen nahmen sich ihr Essen in einem Geschirr mit, um es dann in der Firma aufzuwärmen. Irmis Tante kochte nicht, und die Mutter war auch den ganzen Tag in der Fabrik. Deshalb ging Irmi in ein Speisehaus, wo das Menü sehr wenig kostete. Hier gab es wäßrige Suppe, meist ein ebensolches Gemüse und eine winzigen Mehlspeise. Zweimal in der Woche war ein Stückchen Fleisch dabei, aber das half auch nur kurz, den ewigen Hunger zu stillen. Wären da nicht die beiden Frauen an ihrem Tisch gewesen, die immer noch etwas Eßbares für sie hatten – Irmi wäre verhungert.
Jetzt hockte sie wieder auf ihrem Platz und fertigte grüne Stengel für die Blumen an. Die Lehrfrau wußte, daß Irmi sich gerne etwas bewegte. Deshalb schickte sie Irmi hinaus in den großen Saal, um Blütenblätter zu stanzen. In einer Ecke waren die Presse und eine Stanze untergebracht. Irmi griff freudig zu den schon vorgefertigten Stoffteilen und ging zu der Maschine. Beim Stanzen konnte sie ihre Gedanken laufen lassen.
Freitags besuchte sie die Berufsschule. Da waren die Mädchen von der Federn-abteilung auch dabei. Die Schule ging von 8 bis 17 Uhr mit einer Stunde Pause. Die theoretischen Fächer am Vormittag interessierten Irmi noch halbwegs, aber nachmittags saß sie schon wieder an einem großen Tisch, wo sie an diversen Blüten herumschnippeln mußte.
So war das nun 1 1/2 Jahre gegangen. Irmi sollte bald in die andere Abteilung wechseln. Die Aussicht, das kleine Zimmer mit den lieben Frauen verlassen zu müssen, belastete Irmi so sehr, daß sie vor Angst krank wurde. Im Frühjahr 1949, die Sonne schien schon recht kräftig, legte sie sich mit einer schweren Angina ins Bett. Der Hausarzt verschrieb ein starkes Medikament und trotz der Unterernährung überstand Irmi die Krankheit überraschend schnell. Nach einer Woche war sie bereits wieder in der Ordination, um sich vom Krankenstand abzumelden.
“Nichts wirst du dich abschreiben lassen, wirst dich setzen in die Sonne in Schönbrunn”, meinte der Doktor, “nächste Woche kommst du, dann sehen wir.” Irmi lief, über die unerwartete Freiheit überglücklich, gleich los. Es war nicht weit bis zur Gloriette. Sie sah den Goldfischen im großen Teich zu, die Eichkätzchen hüpften aus dem kleinen Wald heran und vorwärts ging es, hinunter in den Schloßpark. Eine ganze Woche sollte das alles ihr gehören! “Geschenkte Tage”, dachte sie; doch gleich schlich sich der Gedanke an die nächste Woche, wo sie hinunter in die andere Abteilung mußte, unbarmherzig in ihren Kopf. Um sich abzulenken, ging sie auf die Bänke zu, wo jetzt am Vormittag die jungen Frauen mit ihren Babys und Kleinkindern saßen. Eine von ihnen mühte sich gerade damit ab, ihr Baby im Kinderwagen zu beruhigen, während das andere auf ihrem Schoß herumturnte, um auch ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Irmi fragte schüchtern, ob sie in bißchen mit dem Baby spazierenfahren dürfe, sie mache das oft, fügte sie noch beruhigend hinzu. Während sie den Kinderwagen losschob, betrachtete sie das süße Babygesicht und es wurde ihr ganz warm ums Herz. Sie stellte den Wagen vor sich zur Bank.
“Ist das dein Brüderli?” fragte eine Frau freundlich. Irmi verneinte und erzählte dann der wildfremden Frau ihren ganzen Kummer, den sie schon jahrelang mit sich herumgeschleppt hatte. Wie gerne sie sich mit Kindern beschäftigte und daß sie ihren Berufstraum nicht verwirklichen konnte. War es Vorsehung? Die Dame aus Zürich gab ihr die Adresse und Telefonnummer einer Freundin, die die Leiterin eines “Schweizer Kinderheimes” in Wien war. So viel sie wisse, meinte sie, begännen bald Kurse für Kinderpflegerinnen. Vorher müßte allerdings eine Eignungs- und Aufnahmeprüfung gemacht werden. Sie wünschte Irmi noch viel Glück und verabschiedete sich mit einem “Salü”. Nun hielt es Irmi nicht länger im Park, sie brachte das Baby zur Mutter zurück und stürmte den Berg hinauf. Oben, außer Atem angekommen, spürte sie trotz eines starken Schwindels ein tiefes Glücksgefühl. Jetzt war eine große Hoffnung in ihr.
Ungeduldig erwartete sie die Heimkehr der Mutter. Die Bedenken wegen des nicht gemachten Lehrabschlusses fegte Irmi mit ihrer Begeisterung hinweg. “Ich kümmere mich um alles”, versprach sie.
Die Nacht in ihrem weißen Eisenbett nahm kein Ende. Der Schlaf stellte sich immer nur kurzfristig ein, die Aufregung war einfach zu groß. Gleich am nächsten Morgen rannte Irmi zur Telefonzelle und erfragte von der Leiterin den Termin für die Aufnahmeprüfung. In fünf Tagen würde es soweit sein.

Sie fuhr mit der Stadtbahn und mit dem “Pendler”, stand auf der offenen Plattform und überließ ihr Haar dem Wind. Es war soviel Freude in ihr, sie hatte keine Angst zu versagen.
Einige Mädchen waren schon anwesend, als sie kam, sie war die jüngste. Von den zehn, die angetreten waren, wurden sechs für geeignet befunden, darunter auch Irmi. Die Prüfungsfragen waren ihr nicht schwer gefallen, und auf die Frage: “Warum ich diesen Beruf ergreifen möchte” hatte sie einen halben Roman geschrieben. Anschließend gab es ein gemeinsames Mittagessen, das erste nach dem Krieg, wo sie sich wirklich sattessen konnte. Dabei lernten die Mädchen die Schwestern, die Kindergärtnerinnen und das gesamte Hauspersonal kennen. Die Aufnahme der Mädchen ins Internat wurde für den 2. Mai vereinbart, ein Zeitpunkt, der nur mehr eine Woche entfernt lag.
Irmis Mutter fiel die Aufgabe zu, den Lehrvertrag zu lösen. Erfreulicherweise zeigte sich der Chef verständnisvoll und wünschte Irmi sogar alles Glück für den neuen Lebensabschnitt. Nur die vier Frauen in dem kleinen Zimmer waren sehr traurig, als sich Irmi verabschiedete.
Der erste Tag im Internat sollte gleich ein besonderer für Irmi werden. Nach dem Zimmerbeziehen war ein Rundgang mit der Heimleiterin vereinbart. Da das Haus umgebaut wurde, gab es zu der Zeit nur eine Säuglingsstation. Die Leiterin führte die kleine Gruppe an und stellte ihnen die Stationsschwester vor. Sie waren schon fast alle bei der Terrasse angelangt, als hinten im Säuglingszimmer ein kleines Malheur passierte. Die Bedienerin hatte in der Eile einen Kübel mit etwas Wasser zum Aufwischen des Fußbodens stehen gelassen. Ein kleiner Kerl, der mit seinem Gitterbett herangeruckelt war, stieß den Kübel um. Irmi, die weit hinten gestanden war, schnappte sich den Putzlappen und wischte flugs die Lacke auf. Den Kübel samt Schrubber stellte sie in eine Ecke. Dann noch rasch an das Waschbecken, um die Hände zu säubern. Den kleinen Peter, der später ihr besonderer Liebling wurde, schob sie mit dem Gitterbett auf seinen Platz zurück.
Am Abend ließ die Leiterin Irmi zu sich ins Büro rufen. Mit etwas Herzklopfen betrat Irmi den Raum. Die Schwester teilte ihr mit, daß sie am nächsten Tag ihren Dienst auf der Säuglingsstation antreten solle.
Die Stationsschwester hatte sie darum gebeten.
Überglücklich lief Irmi die drei Stockwerke hinauf in ihr Zimmer. Morgen würde ihre Sehnsucht wirkliches Leben werden!