Etwas
verloren steht sie in einer Ecke des Ballsaales. Verloren und doch voll
Spannung, was passieren wird. Extra zu diesem Anlaß hat die Pflegemutter
ihr das rosa Kleid genäht. Sie betrachtet alle mit Neid, die sich
wie selbstverständlich in den Armen ihrer Partner bewegen, sich an
sie schmiegen. Eigentlich ist es kein echter Ballsaal, in dem Jahr für
Jahr das Abschlußfest der Tanzschule stattfindet. Sie nennen es
Forsamlingshus. Und jede kleinere Dorfgemeinde, die auf sich hält,
leistet sich so ein Haus mit einem Saal, der je nach Bedarf auch als Kino
oder für andere Feste genutzt wird. Sie selbst hat nie eine Tanzschule
besucht, kann gar nicht tanzen. In Wien ist man frühestens mit fünfzehn
alt genug dafür. In Dänemark aber geht alles schneller. Mit
10 Jahren lernt man tanzen, mit 14 wird man konfirmiert. Von da an gilt
man als erwachsen. Else und Inger hätten wegen eines Ferienkindes
sicher nicht auf diesen Ball verzichtet. So kommt es, daß Heidi
von den Pflegeschwestern mitgenommen wurde. Etwas jung ist sie schon noch,
12, knappe 13, aber begierig darauf, endlich auch Erwachsenenluft zu schnuppern.
Zuerst ist alles offiziell, mit Reden, Abzeichen und Ehrungen. Sie fällt
unter den vielen Zusehern nicht weiter auf. Die Pflegemutter hat für
den Ballbesuch keine Zeit übrig, kommt sie als Schneiderin doch immer
wieder in Terminnöte. Und den Pflegevater hätte man an jeden
Kartentisch gebracht, wo vor und nach jedem Spiel ein Aalborg gekippt
wird, niemals aber auf ein Tanzparkett. So steht Heidi allein am Rande
der Tanzfläche. Ein bißchen neidig sieht sie den Schwestern
zu. Als es dann zum allgemeinen Tanz übergeht, die Burschen nun die
Mädchen frei auffordern dürfen, wie es Erwachsene tun, steht
sie weiter allein da. Nichts passiert. Keinem der Knaben fällt ein,
auch sie mit einer knappen Verbeugung zu einem Tanz zu holen. So sieht
sie weiter zu, wie sich die anderen amüsieren und versucht, kein
allzu trauriges Gesicht zu machen. Die sind vielleicht nur schüchtern,
weil ich fremd bin, denkt sie erst noch. Aber sie kennen sie ja, vom Strand,
vom Kino, vom Sportplatz. Jeden Sommer verbringt sie auf dieser Insel,
wo alle Menschen einander kennen - wenn sie nicht ohnehin irgendwie miteinander
verwandt sind. Es ist auch ihre Insel. Sie ist nicht fremd.
Vielleicht bin ich ihnen zu jung, tröstet sie sich dann. Denn je
länger sie dasteht, einfach nur so dasteht in ihrem neuen rosa Kleid,
um so kleiner wird die Hoffnung, daß doch noch einer sie zur Kenntnis
nimmt. Vielleicht ist sie ja wirklich noch zu jung. Wer aber sieht einem
das richtige Alter schon an? Und viele, die da tanzen, sind Kinder wie
sie, bestimmt auch nicht viel älter. Und in dem Kleid, das ihr die
Pflegemutter trotz ständigen Zeitmangels genäht hat, nur damit
sie mitgehen kann, was doch so rührend war, sieht sie bestimmt genauso
erwachsen aus wie alle anderen. Sie ist vielleicht nicht gerade eine Schönheit,
aber auch nicht häßlicher als die anderen, die ständig
zum Tanzen aufgefordert werden. "Das Kleid ist egal", hat Inger
einmal zu ihr gesagt. "Ich könnte sogar in einem Sack auf einen
Ball gehen und sie werden mit mir tanzen." Aber Heidis Kleid ist
kein Sack. Wie hat sie sich auf dieses Fest gefreut! Hat geträumt
davon. Von den Gelegenheiten, die sich ergeben würden. Von Ib, der
mit ihr ganz eng zu petite fleur, das ihr immer so unter die Haut geht,
oder zu sonst etwas Langsamen tanzt. Von einer Liebe, die so ihren Anfang
nimmt. Ist sie wirklich noch zu jung zur Liebe? Ist man jemals zu jung
dafür? Wenn sie schon so schmerzlich in einem brennt, kann man doch
nicht mehr zu jung sein für sie. Else und Inger genießen ihre
Beliebtheit. Es ist ihnen anzusehen. Die verschwenden keinen Gedanken
daran, ob sie zu jung sein könnten oder häßlich. Und Ib
hat nur noch Augen für Inger, tanzt fast nur noch mit ihr. Ib, dem
alle Mädchenträume gelten, der Star des Fußballplatzes.
Tanzt Inger einmal mit einem anderen, holt er sie sich nach ein paar Takten
sofort wieder zurück. Heidi versteht ja, daß er sich für
Inger interessiert und nicht für sie, das Wienerkind. Weh tut es
trotzdem, wenn beide Wange an Wange tanzen und einem selbst der Tango
ein so seltsames Kribbeln in der Magengegend bereitet. Wonach aber sehnt
sie sich eigentlich? An Stelle der Ferienziehschwester mit ihm Aug in
Aug über das Parkett zu gleiten, wie Aschenputtel vielleicht? Und
was weiter?
In der Pause sitzen sie beisammen, Inger, Ib, Else und sie, Heidi, die
Dunkelhaarige unter all den beneidenswert Blonden. Sie trinken Sodavand.
Bis 10 Uhr dürfen sie bleiben, um auch noch am Ball der Großen
teilzunehmen, der nun beginnen soll. Ib sitzt neben ihr, der charmante
Ib, dessen Augen immerzu lachen. Genießt ganz offensichtlich sein
beginnendes Mannsein. Hat aber nur Augen für Inger. Die tut so, als
wäre auch er nur einer von vielen. Wenn man wie Inger auf einem Ball
auch in einem Kartoffelsack an Beliebtheit nichts einbüßt,
kann man wohl das Glück nicht schätzen, von einem Ib beachtet
zu werden. Was hätte Heidi darum gegeben, seine feurigen Blicke auf
sich gerichtet anstatt an Inger verschwendet zu sehen. Nein, sie ist ausgeschlossen,
doch zu fremd vielleicht, zu farblos. Ist wie nicht vorhanden im Kreis
der Kinder dieser Insel. Zu jung für ihre Erwachsenenspiele.
Bis um zehn Uhr hat Heidi durchzuhalten. Vor ihren Ferienziehschwestern
mit dem Rad nach Hause fahren will sie nicht. Ein wenig Hoffnung ist ja
noch, eine ganz kleine Chance, doch noch dazuzugehören. Was hätte
die Pflegemutter auch für Fragen gestellt, wäre sie frühzeitig
aufgetaucht, allein. Ob sie sich denn nicht gut unterhalten hätte,
nicht jeden Tanz getanzt hätte wie einst auch sie in ihrer Jugend?
Nicht einmal an einen Tisch zu setzen getraut sie sich. Wohin auch, zu
Fremden, Erwachsenen? Inger und Else tanzen ständig, brauchen nie
zu sitzen. Was bleibt Heidi also übrig, als von einem Fuß auf
den anderen zu steigen und so zu tun, als hätte sie allein am Zusehen
den größten Spaß. Nicht nur das Sorglose, die Freude,
das Glück beobachtet sie. Sie sieht auch das Rohe, Derbe. Männer
mit glasigem Blick, schon unsicher auf den Beinen, die versuchen, allem,
was weiblich ist, Küsse aufzudrängen oder zumindest Brüste
und Hinterteile zu betatschen. Will sie da wirklich dabei sein? Will sie
all dem ausgesetzt sein, dann, wenn sie älter ist? Ist es da nicht
besser, wie unsichtbar dazustehen, geschützt in Unscheinbarkeit,
als ständig auf der Flucht sein zu müssen vor diesem derben
Begehren. Was, wenn aus ihrem Ib, dem Traumprinzen, in ein paar Jahren
auch einmal so ein rotäugiger, torkelnder Frauenbetatscher wird,
der sich am Weg zur Toilette erbricht solange er überhaupt noch in
ein Forsamlingshus auf Bälle geht. Was, wenn auch er sich einmal
seine zwei, drei oder auch vier Bier täglich genehmigt, davor und
danach einen Aalborg, um danach schwerfällig ins Bett zu fallen wie
alle Männer dieser Insel? Wieso gibt es diese zwei Seiten in der
Liebe, das Wunderbare und das Derbe? Und wieso kann der Ekel vor all dem
Groben nicht die Sehnsucht nach dem Wunderbaren unterdrücken?
Sie versucht, ihre Traurigkeit und den Neid auf Inger und Else zu verbergen.
Es ist auch eher Trotz, was sie empfindet, als sie endlich in einer hellen,
sternklaren Nacht auf ihren Rädern nach Hause fahren. Der Trotz einer
Füchsin, der die Trauben zu hoch hängen. Und so nimmt sie sich
fest vor, allein zu bleiben. Für immer und ewig. Einen einzigen Versuch
gibt sich noch. Schon wegen dem Kleid, damit die Mühe um es nicht
ganz umsonst war. In einer Woche, am nächsten Ball.
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