Tante Erika - die ältere Schwester meines Vaters! Ich erinnere mich
an ein unscheinbares, mausgraues Geschöpf mit streng zurück
gekämmten Haaren und schlecht sitzenden Matronenkleidern, aber auch
an das Bild eines schönen, jungen Mädchens, das in ihrem Schlafzimmer
gehangen hatte, halb versteckt hinter dem Kamin. Tante Erika in ihrer
Jugendzeit! Die Männer mussten sie einmal umschwärmt haben.
Dennoch hatte sie keiner geheiratet, und das erschien in früheren
Zeiten als das Schlimmste, das einem weiblichen Wesen passieren konnte.
Kaum jemand kann sich heute vorstellen, was es einst bedeutet hatte, als
Frau nicht im Ehehafen gelandet zu sein. Der Zwang dazu war enorm. Ein
Mädchen, das "sitzen geblieben" war, wurde aus der Gesellschaft
ausgeschlossen, für "überflüssig", zu nichts
nütze gehalten und als "alte Jungfer" verachtet.
"Warum ist Tante Erika ledig geblieben?", fragte ich meine Mutter.
"Sie war sehr unhäuslich", erklärte diese. "Stell
dir vor! Einmal, als sie zu einer Tanzveranstaltung gegangen ist, war
sie zu bequem gewesen, einen fehlenden Knopf anzunähen, hat den Rock
bloß mit einer Sicherheitsnadel geschlossen. Ein Mann, der sich
ernsthaft um sie bemüht hat, ist - als er sie beim Walzer umarmte
- davon gestochen worden. Natürlich hat er gleich darauf das Weite
gesucht. Außerdem mögen Männer nicht, wenn ein Mädchen
den Wunsch zur Ehe zu deutlich zeigt. Und wie dumm sie sich dabei aufgeführt
hat! Kam ein Bursch in ihre Nähe, wurde sie rot, begann sich unnatürlich
zu benehmen, idiotisch zu kichern und Unsinn zu quatschen. "Gib nur
acht!", setzte sie mit einem Seitenblick auf mich fort, "dass
es dir nicht ergeht wie ihr. Auch du bist schlampig und unhäuslich
wie sie und benimmst dich Männern gegenüber ebenso ungeschickt."
Erika hatte als schlecht bezahlte Angestellte in einem Büro gearbeitet,
ihre gebrechlichen Eltern gepflegt und ihrer jüngeren Schwester und
den Schwägerinnen beim Aufziehen der Neffen und Nichten geholfen.
Jeder hatte ihre Dienste als etwas Selbstverständliches in Anspruch
genommen, ihr kaum gedankt und sich nicht weiter um sie gekümmert.
Und dennoch sollte Erika, nachdem sie gestorben war, nicht so einfach
und unbemerkt, wie sie gelebt hatte, aus unserem Dasein verschwinden.
Etliche Jahre vor ihrem Tod war es kaum noch möglich gewesen, die
Zweizimmerwohnung, in der sie nach dem Tod ihrer Eltern alleine hauste,
zu betreten. Nichts warf sie mehr weg, nicht winzigste, gebrauchte Papierblätter
oder Fahrscheine, keinen Stoffflecken, keine Zeitung, Plastiktüte,
leere Flasche oder Schachtel. Berge von unbrauchbaren Dingen türmten
sich auf unter den Tischen, Stühlen und Schränken. Und aus den
Kästen quollen die nicht mehr getragenen Kleidungsstücke.
Knapp nach ihrem zweiundsechzigsten Geburtstag lag sie eines Morgens ohnmächtig
auf dem Boden ihrer Küche. Eine Nachbarin fand sie und verständigte
die Rettung.
"Ein Schlaganfall!", diagnostizierte der Arzt.
Im Spital verfiel sie immer mehr, starrte vor sich, sprach kaum noch ein
Wort und weigerte sich zu essen und zu trinken.
"Tante, was geschieht mit deiner Wohnung?", fragte eine der
Nichten.
Erika drehte sich zur Wand und murmelte: "Nach mir die Sintflut."
Eine Woche später tat sie den letzten Atemzug.
Danach entrümpelten meine Mutter, ich und andere weibliche Verwandte
ihre Wohnung. Bis wir alles entfernt hatten, vergingen Wochen, obwohl
wir uns plagten von früh am Morgen bis in die Nacht hinein. Es dauerte
so lange, denn wir drehten jeden Fetzen, jedes Papierblatt mehrmals um.
Wir wussten, irgendwo unter diesem Kram war ein Goldarmband verborgen,
das ihr der Vater einmal geschenkt hatte. Als junger Feuerwehrmann - beim
Löschen des Ringtheaterbrandes - hatte er es gefunden und - da von
niemandem Anspruch darauf erhoben worden war - behalten dürfen.
Endlich fand ich das Kleinod - ein glitzerndes Gebilde aus Gold, Diamanten
und Rubinen - unter dem letzten Haufen, den wir wegzuräumen hatten.
"Tante Erikas späte Rache!" stellte ich mit einem Blick
auf die nun leere Wohnung, von Schweiß triefend, fest.
"Unsinn!", erklärte meine Mutter. "An wem hätte
sie sich rächen wollen? Niemand hat ihr jemals etwas Böses getan."
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