JOHANNA NOWAK

MEINE TANTE ERIKA

 


Tante Erika - die ältere Schwester meines Vaters! Ich erinnere mich an ein unscheinbares, mausgraues Geschöpf mit streng zurück gekämmten Haaren und schlecht sitzenden Matronenkleidern, aber auch an das Bild eines schönen, jungen Mädchens, das in ihrem Schlafzimmer gehangen hatte, halb versteckt hinter dem Kamin. Tante Erika in ihrer Jugendzeit! Die Männer mussten sie einmal umschwärmt haben. Dennoch hatte sie keiner geheiratet, und das erschien in früheren Zeiten als das Schlimmste, das einem weiblichen Wesen passieren konnte. Kaum jemand kann sich heute vorstellen, was es einst bedeutet hatte, als Frau nicht im Ehehafen gelandet zu sein. Der Zwang dazu war enorm. Ein Mädchen, das "sitzen geblieben" war, wurde aus der Gesellschaft ausgeschlossen, für "überflüssig", zu nichts nütze gehalten und als "alte Jungfer" verachtet.
"Warum ist Tante Erika ledig geblieben?", fragte ich meine Mutter.
"Sie war sehr unhäuslich", erklärte diese. "Stell dir vor! Einmal, als sie zu einer Tanzveranstaltung gegangen ist, war sie zu bequem gewesen, einen fehlenden Knopf anzunähen, hat den Rock bloß mit einer Sicherheitsnadel geschlossen. Ein Mann, der sich ernsthaft um sie bemüht hat, ist - als er sie beim Walzer umarmte - davon gestochen worden. Natürlich hat er gleich darauf das Weite gesucht. Außerdem mögen Männer nicht, wenn ein Mädchen den Wunsch zur Ehe zu deutlich zeigt. Und wie dumm sie sich dabei aufgeführt hat! Kam ein Bursch in ihre Nähe, wurde sie rot, begann sich unnatürlich zu benehmen, idiotisch zu kichern und Unsinn zu quatschen. "Gib nur acht!", setzte sie mit einem Seitenblick auf mich fort, "dass es dir nicht ergeht wie ihr. Auch du bist schlampig und unhäuslich wie sie und benimmst dich Männern gegenüber ebenso ungeschickt."
Erika hatte als schlecht bezahlte Angestellte in einem Büro gearbeitet, ihre gebrechlichen Eltern gepflegt und ihrer jüngeren Schwester und den Schwägerinnen beim Aufziehen der Neffen und Nichten geholfen. Jeder hatte ihre Dienste als etwas Selbstverständliches in Anspruch genommen, ihr kaum gedankt und sich nicht weiter um sie gekümmert. Und dennoch sollte Erika, nachdem sie gestorben war, nicht so einfach und unbemerkt, wie sie gelebt hatte, aus unserem Dasein verschwinden.
Etliche Jahre vor ihrem Tod war es kaum noch möglich gewesen, die Zweizimmerwohnung, in der sie nach dem Tod ihrer Eltern alleine hauste, zu betreten. Nichts warf sie mehr weg, nicht winzigste, gebrauchte Papierblätter oder Fahrscheine, keinen Stoffflecken, keine Zeitung, Plastiktüte, leere Flasche oder Schachtel. Berge von unbrauchbaren Dingen türmten sich auf unter den Tischen, Stühlen und Schränken. Und aus den Kästen quollen die nicht mehr getragenen Kleidungsstücke.
Knapp nach ihrem zweiundsechzigsten Geburtstag lag sie eines Morgens ohnmächtig auf dem Boden ihrer Küche. Eine Nachbarin fand sie und verständigte die Rettung.
"Ein Schlaganfall!", diagnostizierte der Arzt.
Im Spital verfiel sie immer mehr, starrte vor sich, sprach kaum noch ein Wort und weigerte sich zu essen und zu trinken.
"Tante, was geschieht mit deiner Wohnung?", fragte eine der Nichten.
Erika drehte sich zur Wand und murmelte: "Nach mir die Sintflut."
Eine Woche später tat sie den letzten Atemzug.
Danach entrümpelten meine Mutter, ich und andere weibliche Verwandte ihre Wohnung. Bis wir alles entfernt hatten, vergingen Wochen, obwohl wir uns plagten von früh am Morgen bis in die Nacht hinein. Es dauerte so lange, denn wir drehten jeden Fetzen, jedes Papierblatt mehrmals um. Wir wussten, irgendwo unter diesem Kram war ein Goldarmband verborgen, das ihr der Vater einmal geschenkt hatte. Als junger Feuerwehrmann - beim Löschen des Ringtheaterbrandes - hatte er es gefunden und - da von niemandem Anspruch darauf erhoben worden war - behalten dürfen.
Endlich fand ich das Kleinod - ein glitzerndes Gebilde aus Gold, Diamanten und Rubinen - unter dem letzten Haufen, den wir wegzuräumen hatten.
"Tante Erikas späte Rache!" stellte ich mit einem Blick auf die nun leere Wohnung, von Schweiß triefend, fest.
"Unsinn!", erklärte meine Mutter. "An wem hätte sie sich rächen wollen? Niemand hat ihr jemals etwas Böses getan."