RADEGUND HAIN

 

WINDSTILLE

 


Windhauch alles

Das Bundesgericht leitet auf Antrag von Anna Zeltner, 8080 Schattendorf das Verfahren zur Todeserklärung von Berthold Zeltner ein. Die verschollene Person wird aufgefordert, sich spätestens bis 20. Juli diesen Jahres bei Gericht zu melden, widrigenfalls sie für tot erklärt werden kann. Das Gericht fordert alle, die Nachricht über die verschollene Person geben können, auf, solche Nachrichten dem Gericht bis zum vorher genannten Termin mitzuteilen. Die Kundmachungsfrist endet am 20. September. Nach diesem Tag wird das Gericht auf erneuten Antrag über die Todeserklärung entscheiden. Die Bestellung einer KuratorIn ist nach den Umständen des Falles entbehrlich.

Und dann geht Anna einfach aus dem Amtshaus hinaus. Es ist ohnehin nichts mehr übrig. Gefühle auch keine mehr. Nur Hass, der ins Leere geht. Frisst innendrin, hinter dem Brustbein, hinter der Stirn. Wandert. Kann aber nicht raus.
Vor Gottes Angesicht, erkläre ich Dich, (meinen Mann – wenn unbedingt notwendig), für tot, denkt Anna. Dann wieder völlig gleichgültig, alles. Das ganze System hat Schieflage gekriegt. Schon lange.
Geht schräg über die Kreuzung, ohne auf die Autos zu schauen. Geht sich selbst entgegen, im Schaufensterglas an der Ecke gegenüber.

Das Haus an der alten Stadtmauer muss es sein, der Garten abgeschlossen. Bloß keinen Zug, sagt er, und immer: Es zieht, mach die Tür zu. Zuletzt dreht er sich plötzlich am Frühstückstisch um, verstopft die Steckdose hinter sich mit Papier. Da zieht es durch, sagt er dann. Von Anfang an gibt es Momente, in denen sie an seinem Verstand zweifelt. Partout lässt sie alles offen. Führt ihre Freiheit vor. Nicht wie er: ängstlich auf Formen bedacht. Sie spürt wie es ihn böse macht. Von seinem Zwang lebt ihre Freiheit. Fühlt sie sich stark. Aber es hält nicht.

Das Buch ist schon aussortiert, mit so vielem anderen, liegt bei dem, was in blaue Müllsäcke kommt. Dann fischt sie es doch heraus. Grauer Kartoneinband, marmoriert, ein Schiff vorne drauf, der Deckel eingerissen am Bug; rote Kordel hält Einband und dicke stabile Seiten zusammen. Noch im Hinsetzen auf den Boden, denkt sie: Will ich das wissen? Aber die Hände schlagen es auf.

Fängt zu lesen an, wider Willen: Das Haus hat gewackelt. Schiff ist vom Bücherschrank gestürzt. Fast alle Masten geknickt. Das große Segel hat es zerrissen. Muss ich gut machen, bis er zurück ist. Wusste nicht, was passiert, nur dass es schlimm ist. Hab´ schon geschlafen, dann ein wirklicher Alptraum. Mach was! Hab ich geschrieen, und habe ihn gemeint. Es war immer noch dunkel, auch als ich wach war, wurd´ es nicht heller. Ich hab nicht nach ihr geschrieen, warum nicht? Er macht mir Angst. Wieso rufe ich ihn dann. Halb im Schlaf noch. Naturkatastrophen fallen in sein Ressort. Habe sie gestern gesehen. Bei der Hutmacherin war sie. Eigentlich bin ich absichtlich vorbei. Wir sind zusammen ins Café um die Ecke. Am selben Tisch wie früher. Bestellt mir Marmorkuchen, Kakao, und sich einen Cognac, fragt nach der Schule, umarmt mich, redet nicht über ihn. Wieso dürfen Mütter das, einfach weggehen? Er ist immer schon weg, inndendrin ist er nie da. Sie spürt, was mit mir ist. Es hat immer geholfen: Sie sagt gar nichts und krault mir Rücken und Kopf, bis ich schlafe. Und es ist alles gut, wenn ich aufwach´. Habe dann alles vergessen. Nichts mehr gut, seit sie weg ist. Sehr weit weg. Aber anders als er. Der Vater ist immer schon weg. Innendrin ist er nie da.

Anna merkt, dass sie ihn vor sich sieht, als sie das liest. Schaut in die Luft. Merkt, dass das, was in ihr gegen ihn ist, innendrin spröde wird. Wieso jetzt? Das Kind, das er gewesen sein muß, erzählt, wie es ihm geht. Aufgeschrieben, als er noch Wörter weiß, reden kann. Von sich. Auf dem Papier. Wenigstens das. Die Schrift ist klein, die Buchstaben zerdrückt, in alle Richtungen schief. Passen gar nicht zu ihm. Sonst alles korrekt. Aber dagegen kommt er nicht an, das stemmt er nicht hoch und weg von sich und von ihr. Das Gewicht, das sie immer schon spürt, das auf ihm liegt. Da ist es als Bild anzuschauen. In dem, was er aufschreibt., wie er die Buchstaben malt. Vernunft widerspricht aufkommendem Mitgefühl: Warum der Kamikaze-Mann mir? Kann ich mir denken, dass einer wie er, abstürzen will. Nie genug da, was ihn ans Leben bindet. Sein Selbsthass zu groß. Hievt sich vom Boden hoch, erinnert sich, in welcher Schachtel das schwarze Lexikon steckt. Aus dem Jahr sechsundreißig. Der Buchrücken macht schwarze Schlieren aufs Tischtuch, weil das Leder zerbröselt. Wie so vieles, auch das ist mittlerweile egal. Nicht egal, was da steht: Kamikaze, zwischen Kamerad und Kamin, sie denkt: Männersoldaten halten zusammen, immer schon, und Kamin kommt ab einundvierzig entsetzliche Bedeutung zu, jedenfalls zu Kamikaze heißt es: Bedeutung des Wortes: göttlicher Wind und Hauch Gottes. Ein Taifun warf die mongolischen Schiffe im Angriff auf Japan zurück. Von Pearl Harbor steht noch nichts im Lexikon, die Kernspaltung gibt es nur als spekulative Vermutung. Ihr genügt: Hauch Gottes wehrt mongolischen Angriff auf Japan ab. Nur: Wer sind die Mongolen und wer ist Japan? Und wo ist der Gott?

Mit rechtskräftigem Beschluss vom 17. August ..., wurde der verschollene Berthold Zeltner, nähere Angaben zur Person beigefügten Unterlagen zu entnehmen, für tot erklärt und der 20. Juli diesen Jahres als der Tag
bestimmt, den der Verschollene nicht überlebt hat. Draußen nimmt Anna den Bescheid in die Hand, der Regen kümmert sie nicht, Schirm hat sie keinen, sie liest den Schluss noch einmal, ...der Tag.., den der Verschollene nicht überlebt hat.

Aufatmen kommt nicht. Wasser rinnt übers Gesicht, von oben. Aus den Augen dann auch. Das nasse Papier zusammenfalten, die Stempelfarbe verläuft, aber es ist egal. Das Hirn ist woanders. Oder das Herz. Ist wahrscheinlich ohnehin eins. Der Gehsteig da war noch nie überschwemmt. An die raue Hauswand gelehnt, zieht sie ihre Sandalen aus, knüpft die Bänder zusammen, hängt sie über die Schulter. Zieh die Schuhe an, hört sie ihn sagen, benimm dich. Das Weinen hört auf und mit klarem Kopf geht sie barfuß durch die Pfützen die Straße entlang, nach Hause.
Zu sich selbst nach Hause. Eine nasse Spur zieht sie zum Bad, nasse Kleider in moderig riechende Waschmaschine gestopft, Scheuermilch, Schwamm längst vertrocknet. Schmierseife geht auch. Mit Handschuhen macht sie sich an die Flecken. Die letzten toten, lebendigen Spuren, die noch von ihm da sind.
Alles im Labor geprüft. Glücklicherweise können andere sagen, wo sie war an dem Tag. Und wissen, dass er nicht mehr sehr am Leben hängt. Vielleicht putz´ ich ja mir das Blut von der Seele, denkt Anna. Vermutlich vor seinem Verschwinden im Bad gestürzt, steht im Protokoll. Die Krankheit gehe mit Gleichgewichtsstörung einher. Ja, denkt sie, das kann man so sagen. Die Ränder gehen besonders schwer weg. Aber Schmierseife ist immer gut. Die Dreckbrühe rinnt von den Kacheln. Am besten wäre das Ganze unter Wasser gesetzt. Nur das bezahlt die Versicherung nicht. Nach einer Stunde ist alles sauber. Sie steigt in die Brause.

Im Internat so viel Gott, ist genug fürs ganze Leben danach. Sagt er oft. Und hat dann zwei Kringel links und rechts um den Mund, weil er irgendwie lächelt. Und die Augen lächeln auch mit irgendwie, aber das Gewicht ist immer noch da. Und eine Ecke da innen muss tot sein. Angst gehabt, viel zu viel, Wundverschluss und dann die Narbe verwuchert. Und nie versteht er, wenn sie ihm sagen will, was sie fühlt. Und wie das sonst alles ist, im Stift, malt sie sich aus. Manches ist seltsam mit ihm. Schlafüber wird es gelöscht. Ihr Gehirn ist trainiert darin.

Sie liest weiter: Ein ganzes Jahr schon, dass sie nicht da ist. Immer noch wache ich auf in der Früh und weiß nur, dass da was ist, weiß aber nicht was. Fällt es mir ein, geht´s wieder los, das Wehtun. Was besser ist, weiß ich nicht: Sie ist da und die zwei schreien herum. Sie ist nicht da, er fährt mich an, ich krieg´ eins über den Kopf. Er sperrt die Tür hinter mir zu.
Ich hab´ das Schiff repariert. Er hat es bemerkt. Jetzt ist er verstimmt. Hätte es sicherer aufstellen müssen. Sagt er. Er war ja nicht da, als das Erdbeben war. Alles verkehrt. Nichts ist richtig mit mir. Außer die Neue kommt zum Kaffee. Dann ist er höflich. Ich will es nicht glauben. So schnell war die da. Das Tier um den Hals hat er ihr gekauft. Über den Glasaugen glurt ein zweites Paar Augen mich an, nicht weniger giftig. Beiß ihr die Schlagader durch, will ich ihm sagen, dem Viech. Ich gehör´ nicht zu ihr. Wenn ich Grüß-Gott sagen muss, ist davon meine Hand ganz zerquetscht.

Und ans Ende der Seite ist ein böser Fuchskopf skizziert, der spitze Zähnchen zeigt. Und ein paar dunkle Tropfen.

Anna legt das Tagebuch weg, das wie ein Album daherkommt. Und kein Schloss hat. Alles Wichtige drin. Warum ist das offen? Schnell nimmt das wer in die Hand, der nicht soll ... Vielleicht will in ihm irgendwas, dass es der liest, von dem er da schreibt. Und wo war das über die Jahre?

Als auf Annas Fragen seine Drohungen kommen, lernt sie schnell, sich für nichts mehr zu interessieren. Es ist besser. Was er zu tun habe spätnachts, wer die Anrufer seien. Warum so viel Post vom Gericht. Warum das Haushaltsgeld knapp, obwohl seine Arbeit gut bezahlt sei. So lange sie still ist, bekommt sie manchmal ein halbes Lächeln. Sein Schweigen erstickt ihre Fragen. Manchmal schlägt er auch zu. Und niemand, der ihr das glaubt. Sind andere dabei, hält er die Tür auf, hilft in den Mantel, rückt ihr den Stuhl zurecht, probiert Wein, bevor eingeschenkt wird, exerziert alles durch, was er aus der Tanzschule und von zu Hause weiß. Legt diskret die Scheckkarte unter das Tuch auf dem Tablett oder in der Schatulle, spricht leise mit Nicken dazu eine Zahl, generös immer, die Rolle gefällt ihm, sagt sie. Tabubruch ist an sie delegiert. Das macht sie gut. Und auch gerne. Nur die Folgen gefallen ihr nicht.

Anna blättert weiter im Buch:
Schlimmste Zeit überhaupt, Sommer und Herbst jetzt. Die pestige Fuchsfrau gewinnt, an ihrem eigenen Gift krepieren soll sie; ins Konvikt gezwungen haben sie mich; lahme Begründung, das versenkte Boot. Wollte sehen, ob ich das schaffe mit dem Boot; hätten sie es ins Museum gestellt. Der Großpapa war nicht älter als ich jetzt. Wie ich los bin, war Sonne, die Brise grad richtig; Und kreuzen kann ich! Fragt jetzt keiner danach. Weiß ich, dass das Barometer kaputt ist? Bis ich am Zulauf bin, ist die Brise schon stark; über mir alles schwarz auf einmal. Hänge mich an die Kante, aber die Schlagseite bekomme ich nicht mehr hoch, Wasser von unten, Wasser von oben, keine Sicht. Kentern mit Mann über Bord. Erst keine Angst, irgendwo treibt es alles ans Ufer. Die Wellen sind einfach zu hoch, viel zu viel Wasser geschluckt, irgendwie knickt es im Kippen den Mast, der schlägt ein Loch, kein Festhalten mehr am Rumpf, der See frisst das Boot einfach auf, jetzt erst trotz Kälte heiß über mein Herz, nicht sterben jetzt. Ob der dunkle Streifen zum Ufer gehört, weiß ich nicht, klare Angst schält alles Fleisch ab bis auf die Knochen. Wenn ich das überstehe, Vater im Himmel kein Vater, ein Atemzug Heulen, ein Atemzug Wasser, Sirene, das Erste, was durch die Wasserwand tönt; bis sie da sind, hört irgendwas ganz auf, nur mehr Grün ohne Durchsicht. Dann, ein Arm hält mich unter der Brust, dass es weh tut, und gut ist, nicht mehr loslassen will ich den Arm; gar nicht mehr; auch an Land nicht, und jetzt nicht. Aber er ist nicht mehr da.

Deshalb, denkt Anna. Unwillig im Sommer, mit Flossen am Ufer entlanggepaddelt. Mir eine heruntergehauen, nachdem ich quer über den See bin. Wut ist gleich Angst. Hat er ausreichend Sturm gehabt. Vielleicht würd´ ich dann auch die Türen zumachen wollen.

Blättert weiter auf letzte Seite: Jahre später schreibt er: Der September war bis auf eins ganz normal: Habe Anna kennengelernt. Und bis auf eins, ist es eine ganz normale Geschichte. Außer, dass es vielleicht eine Liebesgeschichte ist.

Mittags nimmt Anna ein Kuvert aus dem Briefkasten, macht es auf: Man hat ihn gefunden. Anhand der Zähne identifiziert. Vermutlich verirrt und vor Aufregung darüber Hirnschlag. Der Körper schon am Verwesen. Sie muss nur mehr die Formalitäten erledigen, heißt es. Abschied nehmen in Krematorium oder Aufbahrungshalle möglich.

Ja, so, keine Aster ihm mehr in die Hände legen, denkt Anna. Das macht sie traurig.

Frieden wünscht er sich immer.Hat er jetzt. Endlich.

Wen hat der Hauch Gottes vor wem gerettet?

Frei, denkt sie, bin ich, endlich frei. Ich gehöre nur mir. Wie geht das ... Windhauch ist alles, alles ist Windhauch. Zugeschrieben Kohelet, dem Sammler.
Anna sucht ein zerlesenes Buch aus dem Regal, schlägt nach. Nimmt Farbkreide vom Tisch und schreibt. „Rückhaltlos geschwisterlich“ steht dann da an der Wand, und „Mann und Frau zueinander finden.“ Was entgegensetzen, dem Kohelet dieser Welt.