Das kennt der Papa nicht. Aber die Mama ist im Krankenhaus. Und er ist
allein, mit der Tochter. Das war er noch nie. "Na ja", sagt
er. Mehr um Zeit zu gewinnen, schnell zu überlegen, wie und was,
Hauptsache, es ist gleich vorbei, vom Tisch, wie in der Arbeit, sofort
erledigen, dann ist es weg, aufschieben ist nur lästig.
Die Tochter kann er nicht sofort erledigen. Die Tochter lässt sich
nicht vom Tisch schieben. Die Tochter kann man nicht aufschieben, nicht
wegschieben, sie ist lästig. Und sie bleibt. Vor ihm steht sie, weiß
nicht, wo sie hinschauen, was sie mit ihren Händen machen, wie sie
ihm erklären soll. "Wie ist das denn passiert?", fragt
er und ärgert sich gleich danach, dass er es gesagt hat. "Na,
die Schnur ist halt wahrscheinlich gerissen, was weiß ich, wie das
passiert ist! Jetzt bekomm ich es nicht mehr heraus."
Er räuspert sich. "Also, ich mein, mir ist das halt noch nie
passiert." Er lacht. Aus Verlegenheit, leise und unsicher. Wenn doch
seine Frau da wäre. Die Tochter schaut vom Boden auf, starrt ihm
in die Augen, wütend wahrscheinlich, ist sie wütend, fragt er
sich, wann hat er sie das letzte Mal wütend gesehen, wann hat er
sie überhaupt gesehen in letzter Zeit?
"Sehr witzig." Sie läuft rot an. Es ist ihr peinlich, ja
sicher, genauso peinlich wie ihm, vielleicht sogar mehr, weil sie ist
es doch, der es passiert ist, die zu ihm muss, ausgerechnet, wo er doch
keine Ahnung hat, das ist nicht seine Aufgabe, aber seine Frau ist nicht
da. "Entschuldige." Sie stemmt die Hände in die Hüften.
"Also, was jetzt?" Er kann ihrem Blick nicht mehr ausweichen.
"Na ja." Sie verdreht die Augen. "Ich muss zum Frauenarzt,
Papa, der soll es rausholen. Es muss mich wer hinbringen, der nächste
Bus fährt erst um sechs", faucht sie. Sie dreht sich um, entschlossen,
in der Pubertät eben, denkt er sich, da sind die Mädchen so,
wild und jedes Wort reizt sie. Er seufzt. Legt die Zeitung weg und steht
mühsam auf.
Sie sprechen nicht.
Er dreht das Radio auf. Die Stille ist unangenehm, wie die Situation,
hoffentlich ist die Fahrt bald zu Ende, er trommelt mit den Fingern am
Lenkrad, lalala, singt er leise, lalala, damit er ihr beweist, wie locker
er ist, kein Problem, lalala, er hat alles im Griff, vor allem das Lenkrad
und seine Parteikollegen, nur die Tochter, lalala, die Tochter hat sich
aus seinem Griff gelöst, sich herausgewunden, irgendwann, schon lang
her, er weiß nicht, wann es passiert ist, weil früher, da haben
sie miteinander, immer zusammen, und so viel Spaß, er kann sich
nicht mehr erinnern, aber die Fotos, ja, die Fotos, die beweisen das,
eindeutig, ein Herz und eine Seele waren sie, Vater und Tochter, immer
lustig und fröhlich, lalala, die Fotos lügen nicht.
Sie schnäuzt
sich. "Na, verschnupft?" Noch während er fragt, denkt er
nach, was er weiter sagen könnte, um sie abzulenken und sich selbst,
weil es so unangenehm ist, ihm und ihr, aber sie, sie dreht sich nur zur
Seite und kurbelt das Fenster hinunter, "Nein, ich schnäuz mich
nur, weil es so lustig ist", murmelt sie, ohne dass er es hören
kann und ihr Haar fliegt im Fahrtwind. Wirr. Wild.
"Was hast du
gesagt?" Ein Blick zu ihr, schnell, um nicht die Straße aus
den Augen zu verlieren, nichts verlieren, nie verlieren. "Nichts."
Sie schaut ihn nicht an. Starrt aus dem Fenster. Ihr Haar. Er seufzt.
Leise. Sie soll es nicht hören. Sonst könnte sie noch glauben,
dass er - was?
"Warst du schon einmal dort?" Sie dreht ihren Kopf zur Seite,
langsam, als wäre jede Bewegung unnotwendig und zu mühsam. "Ja."
Die Sonne blendet. "Vielleicht gehe ich heute wieder laufen."
Er bemüht sich. Merkt sie das nicht? "Schön für dich."
Mehr nicht. Er seufzt. Innerlich. Sagt nichts mehr. Laufen, ja, er wird
heute wieder joggen, seit über zwei Jahren tut er das, weil das gesund
ist, er hätte schon früher anfangen sollen, aber früher,
die viele Arbeit, doch jetzt sportelt er, damit er sich bewegt, das hält
fit, hat Strunz gesagt und jetzt rennt er, einmal die Woche, hopp hopp
hopp, schön im Dauerlauf, hopp hopp, nur nicht aufgeben, er ist vorn
dabei und sogar beim Marathon hat er schon mitgemacht, hopp hopp, die
Leute winken ihm zu, wenn er an ihnen vorbeirennt, sie wissen genau, dass
ihm die Puste nicht ausgeht, nie, er hat einen langen Atem, hopp hopp,
Durchhaltevermögen, das zeichnet ihn aus, das schätzten auch
die Wähler und Wählerinnen der Gemeinde, damit ist er weit gekommen,
hopp hopp, bis an die Spitze, er hat noch jeden besiegt.
Aber die Tochter.
Er kann sie nicht mehr einholen. Er muss stehen bleiben, nach Luft schnappen.
Weil sie ihm den Atem nimmt. Mit ihrer Geschwindigkeit. Wild. Wirr.
"Alles Idioten",
schnaubt sie plötzlich. "Hm, was ist?" - "Nichts,
im Radio, die Nachrichten. Ich hab nur mit mir selbst geredet." Mit
ihm spricht sie nicht.
Aber der Papa ist auch nur ein Mann und er liest das Gemeindeblatt und
am Wochenende auch mal die Krone, er ernährt sich bewusst und isst
gern blutiges Steak, er schaut gern Schispringen und hin und wieder einen
Porno. Weil er will doch auch. Wenigstens für kurze Zeit. Leben,
wild, wirr.
Und manchmal, manchmal wünscht sich der Papa weg, weit weg und sie
können ihm alle den Buckel hinunterrutschen, die Politik und seine
Frau und die Tochter, alle können sie ihn gern haben und er träumt
davon, wie er sich absetzt auf die Malediven, mit einer Rothaarigen oder
einer Blondine, großer Busen, und der Papa schreibt eine Karte,
an alle zu Hause, wild und wirr, bitterböse, ich scheiß auf
euch und er lässt die Blondine unterschreiben, viele Grüße,
Isabella, und er, er unterschreibt, in Liebe, ich komm nie wieder, in
Liebe euer (in Großbuchstaben) PAPA.
Zehn Jahre noch, dann hört er auf oder dann will er wenigstens nicht
mehr so viel, mehr Zeit haben, sich Zeit nehmen, für sich und die
Familie, die Politik nicht mehr so ernst und eng sehen, aber die Tochter,
die Tochter, dann kann er sie kennen lernen, neu kennen lernen, entdecken,
er sie und sie ihn, dann haben sie Zeit füreinander, kein Termindruck,
kein ich muss schnell zur Sitzung oder zum Volksfest, zum Gemeindeball,
kein dringender, kein Erledigen, kein wichtiger, nichts, nur mehr der
Papa und die Tochter, zehn Jahre noch, dann endlich.
Die Tochter ist zwölf.
"Da vorn ist
es, halt an!" Er öffnet den Gurt. "Soll ich mit?"
Sie scheint zu zögern. "Wie du willst." Er nickt. "Ich
komme mit."
Sie gehen in den Warteraum.
Er fühlt sich fremd, unwohl und fehl am Platz. Die Tochter hat sich
angemeldet, alles erklärt, den Krankenschein wird sie nachschicken.
Er hat nur das Geld abgeben müssen, als Einsatz. Der Papa zahlt.
Mehr nicht.
"Da." Sie
setzt sich und er neben sie. Neben ihm eine schwangere Frau, gegenüber
eine ältere Patientin. Er ist der einzige Mann. Die schwangere Frau
schaut kurz von ihrer Zeitschrift auf. Ihm direkt in die Augen, verwundert
und überrascht. Er nickt ihr zu, fühlt, wie ihm die Röte
in die Wangen steigt. Sie kennt ihn, bestimmt kennt sie ihn, wenn er auf
der Straße geht, grüßen ihn die Leute, er ist schließlich
Bürgermeister. Bei keiner Rede ist er vorher so aufgeregt und nervös
wie jetzt. Was denken sich die Frauen? Vielleicht glauben sie, die Tochter
sei schwanger, hätte einen Freund, mit zwölf schon, nein, das
kann nicht sein, das werden sie nicht, sie vertrauen ihm doch, das weiß
er, ihre Stimmen haben es bewiesen.
Sie warten. Er will
sich eine Zeitung nehmen. Auf dem Tisch nur Info-Broschüren für
Frauen im Wechsel, in der Schwangerschaft, in der Pubertät, ein Folder
über Brustkrebs. Sorgen Sie rechtzeitig vor, in großen, roten
Buchstaben. Eine Brigitte, eine Petra, eine Vogue. Er lehnt sich wieder
zurück. Lächelt seine Tochter an. Sie zieht die Augenbrauen
hoch. Nimmt sich die Vogue. Gähnt.
Zehn Minuten. Eine halbe Stunde. Vor ihr wird die schwangere Frau aufgerufen,
er erkennt ihren Namen, wahrscheinlich ist es ihr Mann, der Sekretär
ist im Amt. Eine dreiviertel Stunde.
"Frau Karola Luntz, bitte."
Die Tochter steht auf. Der Papa nickt ihr zu. Sie sieht ihn nicht an.
Die ältere Frau schaut ihn an, er lächelt, unbeholfen.
Es dauert nur fünf Minuten, dann kommt die Tochter schon wieder ins
Wartezimmer.
"Fertig, gehen wir." Er will ihr in die Jacke helfen, aber sie
ist schneller.
"Auf Wiedersehen", sagt er und die Frauen verabschieden sich
ebenfalls.
Als sie im Auto sitzen,
sucht er einen Sender. Er dreht am Knopf und hat ihr doch nur helfen wollen.
Der Papa weiß, wie man Reden hält, wie man die Wähler
und Wählerinnen überzeugt, er weiß sogar, wie viele Ausgaben
die Gemeinde in diesem Jahr hatte. Der Papa weiß nicht, was man
tun soll, wenn die o.b. Schnur der Tochter reißt.
"Hat - hat es weh getan?" Er schaut sie an. Schnell.
"Nein, es ist ganz leicht herausgegangen." Sie kurbelt wieder
die Scheibe herunter. Ihr Haar im Wind.
Wild. Wirr. |