SILVIA PISTOTNIG

DIE ZERREISSPROBE

 

Das kennt der Papa nicht. Aber die Mama ist im Krankenhaus. Und er ist allein, mit der Tochter. Das war er noch nie. "Na ja", sagt er. Mehr um Zeit zu gewinnen, schnell zu überlegen, wie und was, Hauptsache, es ist gleich vorbei, vom Tisch, wie in der Arbeit, sofort erledigen, dann ist es weg, aufschieben ist nur lästig.
Die Tochter kann er nicht sofort erledigen. Die Tochter lässt sich nicht vom Tisch schieben. Die Tochter kann man nicht aufschieben, nicht wegschieben, sie ist lästig. Und sie bleibt. Vor ihm steht sie, weiß nicht, wo sie hinschauen, was sie mit ihren Händen machen, wie sie ihm erklären soll. "Wie ist das denn passiert?", fragt er und ärgert sich gleich danach, dass er es gesagt hat. "Na, die Schnur ist halt wahrscheinlich gerissen, was weiß ich, wie das passiert ist! Jetzt bekomm ich es nicht mehr heraus."
Er räuspert sich. "Also, ich mein, mir ist das halt noch nie passiert." Er lacht. Aus Verlegenheit, leise und unsicher. Wenn doch seine Frau da wäre. Die Tochter schaut vom Boden auf, starrt ihm in die Augen, wütend wahrscheinlich, ist sie wütend, fragt er sich, wann hat er sie das letzte Mal wütend gesehen, wann hat er sie überhaupt gesehen in letzter Zeit?
"Sehr witzig." Sie läuft rot an. Es ist ihr peinlich, ja sicher, genauso peinlich wie ihm, vielleicht sogar mehr, weil sie ist es doch, der es passiert ist, die zu ihm muss, ausgerechnet, wo er doch keine Ahnung hat, das ist nicht seine Aufgabe, aber seine Frau ist nicht da. "Entschuldige." Sie stemmt die Hände in die Hüften. "Also, was jetzt?" Er kann ihrem Blick nicht mehr ausweichen. "Na ja." Sie verdreht die Augen. "Ich muss zum Frauenarzt, Papa, der soll es rausholen. Es muss mich wer hinbringen, der nächste Bus fährt erst um sechs", faucht sie. Sie dreht sich um, entschlossen, in der Pubertät eben, denkt er sich, da sind die Mädchen so, wild und jedes Wort reizt sie. Er seufzt. Legt die Zeitung weg und steht mühsam auf.

Sie sprechen nicht. Er dreht das Radio auf. Die Stille ist unangenehm, wie die Situation, hoffentlich ist die Fahrt bald zu Ende, er trommelt mit den Fingern am Lenkrad, lalala, singt er leise, lalala, damit er ihr beweist, wie locker er ist, kein Problem, lalala, er hat alles im Griff, vor allem das Lenkrad und seine Parteikollegen, nur die Tochter, lalala, die Tochter hat sich aus seinem Griff gelöst, sich herausgewunden, irgendwann, schon lang her, er weiß nicht, wann es passiert ist, weil früher, da haben sie miteinander, immer zusammen, und so viel Spaß, er kann sich nicht mehr erinnern, aber die Fotos, ja, die Fotos, die beweisen das, eindeutig, ein Herz und eine Seele waren sie, Vater und Tochter, immer lustig und fröhlich, lalala, die Fotos lügen nicht.

Sie schnäuzt sich. "Na, verschnupft?" Noch während er fragt, denkt er nach, was er weiter sagen könnte, um sie abzulenken und sich selbst, weil es so unangenehm ist, ihm und ihr, aber sie, sie dreht sich nur zur Seite und kurbelt das Fenster hinunter, "Nein, ich schnäuz mich nur, weil es so lustig ist", murmelt sie, ohne dass er es hören kann und ihr Haar fliegt im Fahrtwind. Wirr. Wild.

"Was hast du gesagt?" Ein Blick zu ihr, schnell, um nicht die Straße aus den Augen zu verlieren, nichts verlieren, nie verlieren. "Nichts." Sie schaut ihn nicht an. Starrt aus dem Fenster. Ihr Haar. Er seufzt. Leise. Sie soll es nicht hören. Sonst könnte sie noch glauben, dass er - was?
"Warst du schon einmal dort?" Sie dreht ihren Kopf zur Seite, langsam, als wäre jede Bewegung unnotwendig und zu mühsam. "Ja."
Die Sonne blendet. "Vielleicht gehe ich heute wieder laufen." Er bemüht sich. Merkt sie das nicht? "Schön für dich." Mehr nicht. Er seufzt. Innerlich. Sagt nichts mehr. Laufen, ja, er wird heute wieder joggen, seit über zwei Jahren tut er das, weil das gesund ist, er hätte schon früher anfangen sollen, aber früher, die viele Arbeit, doch jetzt sportelt er, damit er sich bewegt, das hält fit, hat Strunz gesagt und jetzt rennt er, einmal die Woche, hopp hopp hopp, schön im Dauerlauf, hopp hopp, nur nicht aufgeben, er ist vorn dabei und sogar beim Marathon hat er schon mitgemacht, hopp hopp, die Leute winken ihm zu, wenn er an ihnen vorbeirennt, sie wissen genau, dass ihm die Puste nicht ausgeht, nie, er hat einen langen Atem, hopp hopp, Durchhaltevermögen, das zeichnet ihn aus, das schätzten auch die Wähler und Wählerinnen der Gemeinde, damit ist er weit gekommen, hopp hopp, bis an die Spitze, er hat noch jeden besiegt.
Aber die Tochter.
Er kann sie nicht mehr einholen. Er muss stehen bleiben, nach Luft schnappen. Weil sie ihm den Atem nimmt. Mit ihrer Geschwindigkeit. Wild. Wirr.

"Alles Idioten", schnaubt sie plötzlich. "Hm, was ist?" - "Nichts, im Radio, die Nachrichten. Ich hab nur mit mir selbst geredet." Mit ihm spricht sie nicht.
Aber der Papa ist auch nur ein Mann und er liest das Gemeindeblatt und am Wochenende auch mal die Krone, er ernährt sich bewusst und isst gern blutiges Steak, er schaut gern Schispringen und hin und wieder einen Porno. Weil er will doch auch. Wenigstens für kurze Zeit. Leben, wild, wirr.
Und manchmal, manchmal wünscht sich der Papa weg, weit weg und sie können ihm alle den Buckel hinunterrutschen, die Politik und seine Frau und die Tochter, alle können sie ihn gern haben und er träumt davon, wie er sich absetzt auf die Malediven, mit einer Rothaarigen oder einer Blondine, großer Busen, und der Papa schreibt eine Karte, an alle zu Hause, wild und wirr, bitterböse, ich scheiß auf euch und er lässt die Blondine unterschreiben, viele Grüße, Isabella, und er, er unterschreibt, in Liebe, ich komm nie wieder, in Liebe euer (in Großbuchstaben) PAPA.
Zehn Jahre noch, dann hört er auf oder dann will er wenigstens nicht mehr so viel, mehr Zeit haben, sich Zeit nehmen, für sich und die Familie, die Politik nicht mehr so ernst und eng sehen, aber die Tochter, die Tochter, dann kann er sie kennen lernen, neu kennen lernen, entdecken, er sie und sie ihn, dann haben sie Zeit füreinander, kein Termindruck, kein ich muss schnell zur Sitzung oder zum Volksfest, zum Gemeindeball, kein dringender, kein Erledigen, kein wichtiger, nichts, nur mehr der Papa und die Tochter, zehn Jahre noch, dann endlich.

Die Tochter ist zwölf.

"Da vorn ist es, halt an!" Er öffnet den Gurt. "Soll ich mit?" Sie scheint zu zögern. "Wie du willst." Er nickt. "Ich komme mit."

Sie gehen in den Warteraum. Er fühlt sich fremd, unwohl und fehl am Platz. Die Tochter hat sich angemeldet, alles erklärt, den Krankenschein wird sie nachschicken. Er hat nur das Geld abgeben müssen, als Einsatz. Der Papa zahlt. Mehr nicht.

"Da." Sie setzt sich und er neben sie. Neben ihm eine schwangere Frau, gegenüber eine ältere Patientin. Er ist der einzige Mann. Die schwangere Frau schaut kurz von ihrer Zeitschrift auf. Ihm direkt in die Augen, verwundert und überrascht. Er nickt ihr zu, fühlt, wie ihm die Röte in die Wangen steigt. Sie kennt ihn, bestimmt kennt sie ihn, wenn er auf der Straße geht, grüßen ihn die Leute, er ist schließlich Bürgermeister. Bei keiner Rede ist er vorher so aufgeregt und nervös wie jetzt. Was denken sich die Frauen? Vielleicht glauben sie, die Tochter sei schwanger, hätte einen Freund, mit zwölf schon, nein, das kann nicht sein, das werden sie nicht, sie vertrauen ihm doch, das weiß er, ihre Stimmen haben es bewiesen.

Sie warten. Er will sich eine Zeitung nehmen. Auf dem Tisch nur Info-Broschüren für Frauen im Wechsel, in der Schwangerschaft, in der Pubertät, ein Folder über Brustkrebs. Sorgen Sie rechtzeitig vor, in großen, roten Buchstaben. Eine Brigitte, eine Petra, eine Vogue. Er lehnt sich wieder zurück. Lächelt seine Tochter an. Sie zieht die Augenbrauen hoch. Nimmt sich die Vogue. Gähnt.
Zehn Minuten. Eine halbe Stunde. Vor ihr wird die schwangere Frau aufgerufen, er erkennt ihren Namen, wahrscheinlich ist es ihr Mann, der Sekretär ist im Amt. Eine dreiviertel Stunde.
"Frau Karola Luntz, bitte."
Die Tochter steht auf. Der Papa nickt ihr zu. Sie sieht ihn nicht an. Die ältere Frau schaut ihn an, er lächelt, unbeholfen.
Es dauert nur fünf Minuten, dann kommt die Tochter schon wieder ins Wartezimmer.
"Fertig, gehen wir." Er will ihr in die Jacke helfen, aber sie ist schneller.
"Auf Wiedersehen", sagt er und die Frauen verabschieden sich ebenfalls.

Als sie im Auto sitzen, sucht er einen Sender. Er dreht am Knopf und hat ihr doch nur helfen wollen.
Der Papa weiß, wie man Reden hält, wie man die Wähler und Wählerinnen überzeugt, er weiß sogar, wie viele Ausgaben die Gemeinde in diesem Jahr hatte. Der Papa weiß nicht, was man tun soll, wenn die o.b. Schnur der Tochter reißt.
"Hat - hat es weh getan?" Er schaut sie an. Schnell.
"Nein, es ist ganz leicht herausgegangen." Sie kurbelt wieder die Scheibe herunter. Ihr Haar im Wind.
Wild. Wirr.